Angeklagter Mohammad R. und Verteidigerin Hela Ayni-Rahmanzai besprechen sich vor dem Verhandlungssaal, in dem über den Vorwurf des Mordversuchs entschieden wird.

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Wien – Wolfgang Denk hat als gerichtsmedizinischer Sachverständiger jahrzehntelange Erfahrung mit allen Ausprägungen körperlicher Gewalt, doch im Prozess gegen Mohammad R. lernt auch er etwas Neues. Der 17-jährige R. ist wegen eines Mordversuchs am 14. Februar 2021 vor dem Geschworenengericht unter Vorsitz von Martina Frank, da er fünfmal auf einen 20-Jährigen eingestochen hat. Und der Verletzte schildert vor Gericht, er habe damals "Bienenstiche" gespürt, als der Angeklagte ihn mit einem Klappmesser mit Neun-Zentimeter-Klinge attackierte. "Das als 'Bienenstich' zu beschreiben, war mir auch neu", gibt Denk im Rahmen seiner Gutachtungserstattung zu, normalerweise werden Stichverletzungen von den Opfern meist als Schläge empfunden.

Was ist also am Valentinstag vor einem Jahr in Linz-Ebelsberg geschehen? Die Staatsanwältin geht von einem versuchten Mord aus. Angeklagter R. habe ein nächtliches Treffen mit dem Bruder der von ihm Verehrten arrangiert, da der Bruder offenbar die Beziehung unterbinden wollte. Beide Seiten kamen zu der Begegnung um 3.45 Uhr morgens nicht alleine: R. hatte seinen Cousin mit, der andere einen Freund.

Schwere Verletzung im Nackenbereich

Es entstand rasch ein Streit, aus Sicht der Anklage habe R. dann seinen Kontrahenten mehrmals in die Flanke und den Nackenbereich gestochen, ehe der ihn noch zu Boden brachte. Verteidigerin Hela Ayni-Rahmanzai und ihr Mandant sagen dagegen, der Verletzte, ein Ringer und Kickboxer, habe R. zuerst geschlagen, der damals 16-jährige Angeklagte habe also in Notwehr gehandelt.

Dass ein Geschworenengericht in Wien für den Fall zuständig ist, obwohl der Tatort ob der Enns liegt, ist im Wohnsitz des Angeklagten begründet. Nachdem der im Iran geborene Afghane mit seinen Eltern und Geschwistern 2015 nach Österreich gekommen war, lebte die Familie zunächst in Linz und zog, nachdem sie Asyl erhalten hatte, Ende 2019 in die Bundeshauptstadt.

Getrübtes Vorleben und drei -strafen

In Linz sei er 2019 auch mit der damals 15-jährigen Schwester des Verletzten zusammengekommen, behauptet der Angeklagte, auch nach dem Umzug seien sie ein Paar gewesen. Obwohl der Bruder und Vater der Angebeteten dagegen gewesen seien, wie R. überzeugt ist. Der Grund für die Vorbehalte der syrischen Familie gegen den prospektiven Schwager/Schwiegersohn könnte in dessen getrübtem Vorleben zu finden sein. Bereits als Unmündiger wurde er in Linz polizeibekannt, zwischen 16. Oktober 2019 und 30. November 2020 wurde der arbeitslose Schulabbrecher in Oberösterreich und Wien dreimal verurteilt: wegen Raubes, Verstoßes gegen das Suchtmittelgesetz und schwerer Körperverletzung.

"Ich bekenne mich sowohl schuldig als auch unschuldig", lässt der Angeklagte übersetzen und meint damit, dass er tatsachengeständig sei, aber aus Notwehr gehandelt habe. "Es war Valentinstag, und ich wollte meine Freundin sehen", begründet er die Reise in die oberösterreichische Landeshauptstadt, wo er bei seinem Onkel nächtigte. Das Handy seiner Freundin habe deren Bruder gehabt, der R.s Nummer blockierte, daher habe er sich ein Instagram-Konto angelegt und den Bruder so kontaktiert, um das Verhältnis zu klären, erzählt der Angeklagte.

"Yo, komm Ebelsberg"

Der Bruder habe auf das nächtliche Treffen bestanden, behauptet R., der Verletzte wiederum verweist darauf, dass der Angeklagte ihn mit dem Satz "Komm, willst du ein Glas Tee?" eingeladen hatte und mit "Yo, komm Ebelsberg, wenn du dich treffen willst!" den Treffpunkt festgelegt hatte. Außerdem habe seine Schwester keinen Kontakt mehr zu R. gewollt, das habe er ihm bereits in der Vergangenheit gesagt, sieht der Zeuge keine aufrechte Beziehung. Beide Seiten misstrauten sich offensichtlich und nahmen deshalb Begleitung mit.

R. sagt, er habe sein Klappmesser bereits im Vorfeld aktiviert und in der Hosentasche mit der Hand festgehalten. Der Bruder habe ihm einen Schlag versetzt, einem weiteren konnte er ausweichen, dann selbst einen Treffer landen. "Es ging dann alles sehr schnell. Mir war sehr schwindlig, ich habe Angst bekommen, dann zog ich das Messer", verteidigt der Angeklagte sich. "Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ich habe gestochen, bevor ich zu Boden gefallen bin", will er sich an den genauen Ablauf nicht mehr erinnern können.

"Was war der Grund, dass Sie ihn so oft gestochen haben?", will die Vorsitzende wissen. "Ich dachte, ich habe ihn nicht getroffen", begründet der Angeklagte, da ihn der Bruder ja offensichtlich nach den ersten Stichen noch zu Boden brachte, dort fixierte und das Versprechen einforderte, R. solle der Schwester nie mehr schreiben.

Verletzter bemerkte Messer erst spät

Der Verletzte beschreibt die Situation genau umgekehrt: Nach den ersten "Bienenstichen" sei er zur Attacke übergegangen, als der Angeklagte auf dem Boden lag, habe er irgendwann das Messer in dessen Hand bemerkt und seinen Begleiter alarmiert. Der nahm R. das Messer ab und schleuderte es weg. R. flüchtete in Richtung der Wohnung des Onkels, sein Cousin und der Freund kümmerten sich noch um den Verletzten. Zur Wahrheitsfindung können die beiden aber recht wenig beitragen: Beide sagen, sie seien abseits gestanden und hätten im Dunkeln erst gesehen, dass die Kontrahenten zu Boden gingen.

Da R. sich selbst eine Schnittverletzung an einem Finger zuzog, hatte es die Exekutivbeamten der Sektorstreife nicht allzu schwer, den Fall zu klären: Sie folgten der Blutspur zur nahen Wohnung, wo R. und sein Cousin sich schlafend stellten, und nahmen zunächst beide fest.

Pessimistische Sachverständige

Die psychiatrische Sachverständige Gabriele Wörgötter hält R. für zurechnungsfähig und sieht auch keinen Grund für seine Einweisung wegen Gefährlichkeit, ist aber ungewöhnlich pessimistisch. "Es nimmt nicht sehr viel Wunder, dass er mit diesen Anschuldigungen hier sitzt", sagt sie über den Angeklagten. Die drei Vorstrafen ließen auf eine "Spirale der Aggression" schließen, seine innere Einstellung sei von einem Weltbild geprägt, in dem die Autorität der Eltern mehr zähle als die staatliche. "Seine Beziehung zu Mädchen beziehungsweise Frauen ist von Besitzdenken geprägt", ist Wörgötter überzeugt. R. leide an einer "Persönlichkeitsentwicklungsstörung", bedingt durch "das Spannungsfeld zwischen traditionellen Werten und westlichen Normen".

Vorsitzende Frank zitiert am Ende noch aus den Jugenderhebungen zum Angeklagten, demnach sei dieser noch im Jänner im Gefängnis von seiner Beziehung mit der jungen Frau überzeugt gewesen und hoffte auf eine Aussprache nach seiner Entlassung. "Glauben Sie nicht, dass die Tat der Beziehung ein wenig hinderlich im Wege steht?", fragt die Vorsitzende. "Das glaub ich schon, aber wir waren ja länger zusammen, und sie soll es mir selbst sagen", entgegnet der Angeklagte.

Liebe, die Leben kaputtmachte

Verteidigerin Ayni-Rahmanzai widerspricht ihm in ihrem Schlusswort: Sie habe mit ihrem Mandanten im Gefängnis ebenfalls gesprochen, und er sage nun: "Diese Liebe hat sein Leben kaputtgemacht." An die Laienrichterinnen und Laienrichter appelliert sie, daran zurückzudenken, wozu man selbst als verliebter 16-Jähriger in der Lage gewesen wäre.

Aus den Optionen Mordversuch, absichtliche schwere Körperverletzung, Notwehr oder grob fahrlässige Körperverletzung durch Notwehrüberschreitung entscheiden sich die Geschworenen mit sieben zu einer Stimme für Nummer eins. Eine Notwehrsituation sehen sie einstimmig nicht. R. wird bei einem Strafrahmen von ein bis 15 Jahre Haft zu acht Jahren verurteilt, die offenen Vorstrafen werden nicht widerrufen.

"Acht Jahre? Er hat ja keinen Mord begangen!", ruft der Vater des Angeklagten aus dem Publikum, wie der Dolmetscher übersetzt. Da die Eltern also das Urteil offenbar nicht goutieren, nimmt die Verteidigerin nach kurzer Beratung drei Tage Bedenkzeit, die Staatsanwältin gibt ebenso keine Erklärung ab, die Entscheidung ist daher nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 14.2.2022)