Jeder Mensch hat denselben Wert, ganz unabhängig von der Herkunft, vom Einkommen oder Geschlecht. So würde man einem Kind den Begriff Würde erklären. In Europa ist sie das erste und wichtigste Grundrecht.

Die Realität sieht anders aus. Auf Lesbos, im "Nachfolgelager" des berüchtigten Moria-Camps, dem Kara-Tepe-Camp, scheint Würde ein seltener Gast zu sein. Im Gegensatz zu Prof. Dr. Gerhard Trabert. Der Mainzer Mediziner war schon häufig hier, um den Menschen vor Ort gesundheitliche Hilfe zu leisten. Und ihnen ein Stück Würde zurückzugeben.

Selbst im Tod noch ausgegrenzt: Blick auf Mytilini.
Christof Mattes

Doch was passiert mit Geflüchteten, die die Entscheidung der Asylbehörden nicht mehr erleben? Oder die bei der Überfahrt ertrinken und das Ziel ihrer Sehnsüchte nur tot erreichen? "Der Armenfriedhof nahe der Hauptstadt Mytilene hatte schon 2017 nicht mehr genügend Platz", erinnert sich Trabert. In der Nähe des Ortes Kato Tritos wurde daher ein separater Friedhof eingerichtet, sagte man ihm.

Name unbekannt

Dort angekommen, wusste niemand von diesem Ort. Schließlich – und schon voller Verzweiflung bei seiner Suche – traf Trabert in einem kleinen Bistro einen Mann, der ihn auf einen Acker führte. An einem Ort irgendwo im Nirgendwo, versteckt in einem Olivenhain. Abgesperrt, der Zutritt nur mit besonderer Genehmigung gestattet. Am Eingang ein verrostetes Fahrzeug.

Der Flüchtlingsfriedhof nahe Kato Tritos.
Christof Mattes

87 Grabhügel zählte Trabert, der sich durch ein Loch im Zaun Zutritt verschaffte. Die meisten waren bedeckt mit kleinen, marmorartigen Gedenktafeln. Mal stand darauf der Name einer einzelnen Person, mal der einer gesamten Familie. Und ganz häufig die Inschrift "Name unbekannt". "Mit Würde hatte der Ort wenig zu tun", so Trabert. "Selbst im Tod waren die Menschen noch ausgegrenzt und weggesperrt." Gemeinsam mit Fabiola Velasquez von der Organisation Earth Medicine beschloss Trabert mit seinem Verein Armut und Gesundheit, sich für eine würdevolle Gestaltung des Friedhofs zu engagieren. Immer wieder stießen sie auf Ablehnung der griechischen Behörden. Mal hieß es, aus Angst davor, dass Neonazis den Ort schänden könnten, mal, dass man keinen Wallfahrtsort für Angehörige schaffen wolle.

Sterben sichtbar machen

Doch die beiden versuchten es weiter – zusammen mit anderen Aktivisten vor Ort. Nach knapp sieben Jahren fand nun im April 2024 die Einweihung statt. Die gesamten entstandenen Kosten übernahm der deutsche Verein Armut und Gesundheit.

Zuvor hatte das Team bei teils sengender Hitze die Gräber identifiziert und sie gemeinsam mit mehreren Freiwilligen verschiedener Nationalitäten und Religionen aus dem Lager Kara Tepe von wucherndem Gras und Disteln befreit. "Für uns alle war es eine unausgesprochene Verpflichtung den Verstorbenen gegenüber", sagt Trabert. "Mit jeder freigelegten Steintafel war es so, als ob ihr Sterben wieder sichtbar würde."

Ein Gedenkstein ging dem Mediziner besonders nahe: der eines Kleinkinds. "Ich empfand Scham und Demut, dass wir als Europäer so etwas zulassen." In Mainz ließ der Mediziner ein Banner herstellen: "Memorial to Humanity" steht als Überschrift darauf und darunter auf Englisch, Griechisch, Arabisch, Farsi und Deutsch folgende Worte: "Mahnmal für die Menschlichkeit – Begräbnisstätte für Geflüchtete / An diesem Ort sind Menschen begraben, die auf der Flucht ihr Leben verloren haben. Mögen sie in Frieden ruhen." (Cristof Mattes, 4.5.2024)