In Linz sprachen Helmuth Pfeffer (Dritter von links) und Sandra Weihs (Zweite von rechts) mit Korrespondent Markus Rohrhofer (ganz links), Chefredakteur Martin Kotynek (Zweiter von links) und Innenpolitikredakteurin Lisa Nimmervoll (Dritte von rechts).

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Bei Treffen in Innsbruck erklärten Leserinnen und Leser, wie sie sich über das Nachrichtengeschehen informieren.

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Bei Treffen in Wien erklärten Leserinnen und Leser, wie sie sich über das Nachrichtengeschehen informieren.

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Wenn ich aufwache, hat Helmuth Pfeffer bereits den kompletten STANDARD gelesen. Verlässlich meldet er sich frühmorgens in meiner Whatsapp-Gruppe "LeserInnen-Treffen"; dort schreibt er, was ihm in der aktuellen Ausgabe gefällt und wovon er mehr lesen möchte, hängt Links zu Onlinetexten an – als Empfehlung für die anderen Mitglieder der Gruppe. Oft entwickelt sich dann ein lebhaftes Gespräch unter den Teilnehmern, manchmal wirkt es so, als würden alle gemeinsam die Zeitung und die Website lesen – daheim am Frühstückstisch, auf dem Weg in die Arbeit oder im Büro, verstreut über das ganze Land.

Helmuth ist einer von inzwischen gut 100 Teilnehmern an unseren Lesertreffen, von denen ein guter Teil in jener Whatsapp-Gruppe mit uns in Kontakt geblieben ist. Als ich vor knapp einem Jahr die Chefredaktion des STANDARD übernommen habe, habe ich alle Leserinnen und Leser gefragt, ob sie mit mir im kleinen Kreise abendessen wollen, um über unser Medium zu sprechen. Es haben sich so viele von Ihnen gemeldet, dass wir eine Auswahl treffen mussten. Nach demografischen Kriterien haben wir geprüft, wer repräsentativ für unsere Leserschaft in Print und Online steht. Anfangs waren es anonyme Einträge in einer Excel-Liste: unter anderen "der Student", "die Unternehmerin", "das Pensionistenehepaar", "die Kulturliebhaberin", "der Forscher". Heute sind sie – neben anderen – als Bernhard, Desiree, Gabriele, Johannes, Sabine, Sandra und eben Helmuth wichtige Menschen in meinem Leben.

Es gibt nicht "den Leser"

Kennengelernt habe ich sie bei inzwischen etwa 20 Abendessen in Wien, Graz, Linz, Salzburg und Innsbruck, gemeinsam mit Redakteurinnen und Redakteuren. Ihr Feedback ergänzt die vielen Leserbriefe und persönlichen E-Mails, die Sie mir laufend schicken, sowie die Kommentare, die Sie online unter unseren Artikeln hinterlassen und die unser Moderationsteam für die Redaktion inhaltlich auswertet.

Diese Reaktionen unserer Leserinnen und Leser sind uns wichtig. Sicher nicht, weil wir Ihnen nach dem Mund reden, uns anbiedern oder unser Fähnchen nach dem Wind hängen wollen. Vielmehr: Als Journalist steckt man tief in vielen Themen und Entwicklungen. Man tauscht sich mit Betroffenen, mit Politikern, Experten und anderen Journalisten aus, und manchmal vergisst man, dass die Leser nicht dafür bezahlt werden, sich stets auf den neuesten Stand zu bringen. Dann hilft es zu hören, dass sich viele von Ihnen zwar besonders für den U-Ausschuss zum BVT interessieren, aber nicht jede Detailentwicklung mitverfolgen können, weil es im Leben auch noch andere Dinge gibt als Nachrichten. Dann denken wir uns ein Format aus, das unseren Leserinnen und Lesern helfen soll, die bisherigen Entwicklungen auf einen Blick zu erfassen und wieder in das Thema einsteigen zu können.

Bei unseren Abendessen fragen wir nicht, was unsere Leserinnen und Leser wollen, sondern wir fragen, was sie brauchen. Was sind ihre Bedürfnisse an Information, wo erfüllen wir diese Erwartung, wo noch nicht? An jenen Abenden wird schnell klar, dass es nicht "die Leserin" oder "den Leser" gibt. Ich bin jedes Mal erstaunt, auf welch vielfältige Weise Sie den STANDARD nutzen.

Herausreißer und Abfotografierer

Während wir uns große Mühe geben, einen guten Lesefluss durch die Zeitung zu ermöglichen, haben wir entdeckt, dass es eine große Zahl an "Von-hinten-nach-vorne"-Lesern gibt, die bei den Kommentaren anfangen. Es gibt die "Umsortierer", die etwa den Kulturteil nach vorn reihen und sich dann erst den anderen Teilen zuwenden. Es gibt die "Zerteiler", oft dann, wenn ein Paar den STANDARD gleichzeitig liest – der eine beginnt etwa mit der Politik, der andere mit dem Sport, danach tauscht man die Zeitungsteile. Jene von Ihnen, die unsere Zeitung unterwegs lesen, gehören oft zu den "Faltern", wobei es hier zumindest zwei Untergruppen gibt: die "Längsfalter" (Seite umblättern, erst vorn, dann hinten lesen) und die "Längs- und Querfalter" (erst den Teil oberhalb des Buges, dann den Teil unterhalb des Buges lesen). Auch gibt es "Herausreißer" und "Abfotografierer", um sich Geschichten für später aufzuheben oder mit anderen zu teilen. Ich selbst gehöre zur Gruppe der "Vor-dem-Wegwerfen-schön-Sortierer"; Anhänger dieser Gruppe legen ihren STANDARD nach dem Lesen gern auch in die Entnahmeboxen der Gratisboulevardmedien, wohl aus Nächstenliebe.

Auch unsere Onlinenutzer unterscheiden sich stark. Die einen kommen mehrmals am Tag und scrollen die Homepage durch, viele haben sie ständig im Hintergrund offen und laden sie in Arbeitspausen neu. Die anderen kommen über Social Media direkt auf Artikel und klicken sich dann erst auf die Homepage weiter. Mehr als die Hälfte von ihnen nutzt den STANDARD inzwischen übrigens auf Handys und Tablets. Andere lesen ihn zuerst über unser Whatsapp-Abo, über unsere täglichen Nachrichtenzusammenfassungen auf Instagram oder im Newsletter.

Für all diese Bedürfnisse gilt es, unsere Berichterstattung zu planen. Bei all der Vielfalt haben wir aus den vielen Gesprächen und E-Mails ein paar übergeordnete Themen zusammengefasst, die vielen Leserinnen und Lesern wichtig zu sein scheinen. (Widersprechen Sie mir gern!)

1. Schwerpunkte. Print kann das Rennen um Vollständigkeit mit Online nicht gewinnen. Es geht nicht darum, das Nachrichtengeschehen in der Zeitung möglichst vollständig abzubilden – Journalisten nannten das die "Chronistenpflicht" -, sondern auszuwählen, was für unsere Leserinnen und Leser am wichtigsten sein könnte. Auch online reduzieren wir auf Wunsch unserer User sukzessive die Menge an APA-Meldungen und nutzen die gewonnenen Kapazitäten, um mehr eigene Schwerpunkte zu recherchieren. Für die Schwerpunktsetzung gilt bei uns, "das Große groß, das Kleine klein" zu berichten: Mehrere, längere Texte, online mit Videos, gehen in die Tiefe und versuchen, die Hintergründe und Zusammenhänge einer Nachricht zu ergründen.

2. Investigative Recherche. Unsere Leserinnen und Leser erwarten von uns verlässliche Informationen, gerade in Zeiten von Fake-News auf Social Media. Und gerade dann, wenn eine Regierung mit Message-Control sowie ein Innenminister die Arbeit der freien Presse nicht gerade erleichtern, ist es unsere Aufgabe, als unabhängiges Medium genau hinzusehen, was im Verborgenen passiert. Auch in Zeiten enger Redaktionsbudgets müssen wir uns als unabhängiges Medium den Luxus leisten, allen relevanten Hinweisen nachzugehen, die auf Missstände in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hindeuten – auch auf die Gefahr hin, dass die Recherche am Ende kein Ergebnis bringt. Mutige Menschen, die wissen, dass wir unsere Quellen schützen, überbringen uns Informationen aus Ministerien und Behörden, die wesentlich für die Öffentlichkeit sind. Dabei darf man auch keine Angst haben, Nationalheiligtümer genauer zu untersuchen. Anfang des Jahres haben wir Fälle von sexuellem Missbrauch im Skisport aufgezeigt, später wesentlich zur Aufarbeitung des Skandals rund um die Razzia im BVT beigetragen sowie erstmals über die Abhörziele des deutschen Geheimdienstes in Österreich berichtet.

3. Tempo und Tiefe zugleich. Unsere Leserinnen und Leser wollen, dass wir in unserer Berichterstattung schnell und hintergründig sind, am besten gleichzeitig. Um das zu erreichen, haben wir begonnen, weniger in Print und Online, sondern mehr in Geschwindigkeiten zu denken: schnell, mittel und langsam.

Ein Beispiel: Wenn bekannt wird, dass die öffentliche Hand für einen Schamanen 95.000 Euro ausgegeben hat, um einen Energieschutzring um das Krankenhaus Nord zu errichten, müssen wir schnell die Geschichte recherchieren. In der mittleren Geschwindigkeit überlegen weitere Kollegen, was die Geschichten von morgen und übermorgen sein könnten – zum Beispiel die zuständige Stadträtin um ein Interview zu bitten oder herauszufinden, in welchen anderen öffentlichen Projekten Esoterik-Dienstleistungen in Auftrag gegeben wurden -, um die Dimension des Themas zu ergründen. (Sie erinnern sich vielleicht an die Energiesteine entlang der Autobahnen, die errichtet wurden, um die Unfallhäufigkeit zu reduzieren.) Und in der langsamen Geschwindigkeit bereiten wir die große Lesegeschichte vor, in diesem Fall einen Schwerpunkt über die Esoterikgläubigkeit der Österreicher, mit wissenschaftlicher Betrachtung und Selbsttest.

4. Ausgewogenheit und Diskurs. Bei Vorhaben der Bundesregierung wollen Leserinnen und Leser zunächst alle Argumente lesen, die dafür und dagegen sprechen, um sich selbst eine Meinung zu bilden, statt bevormundet zu werden. Deshalb haben wir das Format "Für & Wider" entwickelt, bei dem wir Expertenmeinungen aus allen Richtungen zusammentragen. Wer den STANDARD liest, will mit einem möglichst breiten Spektrum an anderen Meinungen konfrontiert werden, um sich ein Bild machen zu können. Mit dem "Kommentar der anderen" laden wir Gastautoren ein, und in den Kommentarbereichen unter unseren Onlineartikeln kann jeder seine Meinung ergänzen. In unseren eigenen Kommentaren schreiben wir mit unserer liberalen Haltung, wie wir die Sache sehen. In unserer diversen Redaktion herrscht große Meinungsvielfalt: Im Format "Pro & Contra" streiten sich unsere Redakteurinnen und Redakteure, meist zivilisiert. Und mit "Österreich spricht" haben wir zuletzt Menschen miteinander ins persönliche Gespräch gebracht, die politisch völlig unterschiedlicher Meinung sind. Das Ziel von alledem ist, dass die Gesellschaft darüber ins Gespräch kommt, wie sie ihre Zukunft miteinander gestalten will – eine Kernaufgabe in der Demokratie.

5. Interaktive Erzählformate. Einer der meistgelesenen Onlinetexte in diesem Jahr ist eine volkswirtschaftliche Analyse der Entwicklung der Mittelschicht. Darin befindet sich ein interaktiver Rechner, mit dem man feststellen kann, ob und zu welchem Teil der Mittelschicht man selbst gehört. Außerdem hat unser neugegründetes Interaktiv-Team abgebildet, wie sich wesentliche demografische Kennzahlen entlang der Autobahnausfahrten der A1 ändern, und geben mit dem "Speckgürtel-Report" einen Einblick in die wachsenden Siedlungsgebiete um Städte. Mit Animationen und Datenvisualisierungen lassen sich komplexe Zusammenhänge oft leichter verstehen. Und wir gehen dorthin, wo etwas passiert: Unser ebenfalls neues Videoteam fängt etwa die Stimmung auf dem Wiener Praterstern ein oder macht Live-Streamings von Diskussionen, Demonstrationen oder Pressekonferenzen.

Auf Basis dieser Erkenntnisse werden wir den STANDARD laufend weiterentwickeln. Ich lade Sie herzlich ein, Teil dieser Entwicklung zu sein. Schreiben Sie mir an chefredaktion@ derStandard.at, wenn Sie mit unserer Arbeit zufrieden oder unzufrieden sind, nutzen Sie weiters die Möglichkeit, Ihre Meinung unter Artikeln zu posten, schreiben Sie uns einen Leserbrief und melden Sie sich gern, wenn Sie sich für ein Abendessen interessieren. Ich freue mich, auch Sie kennenzulernen! (Martin Kotynek, 19.10.2018)