Betrifft: Rau-Kolumne "Zeitgeschichte für Philosophen", DER STANDARD, 14. 2. 2003

Dass auch Kolumnisten so genannter Qualitätszeitungen nur noch in Kategorien der Millionenshow denken können, hat seine Gründe. Die Reduktion von Bildung auf vier Antworten, von denen eine stimmt, erspart es, über Zusammenhänge und den logischen Status von Argumenten noch nachdenken zu müssen. Wie also zum Beispiel Hans Rauscher zu der Behauptung kommt, ich hätte in der USA die "historische Legitimation als demokratische Macht" abgesprochen, ist mir schleierhaft. So weit ich mich an meinen Text erinnere, war davon nirgends die Rede gewesen.

Um also auch Herrn Rauscher zu erklären, was ich meinte, das Ganze noch einmal: Wogegen ich mich wandte, war eine meines Erachtens erpresserische Argumentation: dass man aus Dankbarkeit für die Befreiung vom Faschismus die USA bei ihren Kriegsplänen gegen den Irak unterstützen muss. Abgesehen davon, dass Dankbarkeit keine politische Kategorie ist und durch eingeforderte Dankbarkeit erzwungene Handlungen auch im privaten Leben höchst prekär sind, kann auch aus berechtigter Dankbarkeit niemand verpflichtet werden, eine Handlung zu unterstützen, die er aus politischen, rechtlichen und moralischen Gründen nicht gutheißen kann.

Wie problematisch dieses Pochen auf Dankbarkeit ist, habe ich durch den Hinweis auf die UdSSR versucht zu demonstrieren, die das Ihre zum Sieg der Alliierten über Hitler-Deutschland beigetragen hat – was ja nicht einmal Hans Rauscher abstreiten kann – und dennoch für ihre totalitäre Politik keine Solidarität aus Dankbarkeit erwarten durfte, auch wenn sie diese pikanterweise von ihren "Brudervölkern" und Sympathisanten mit denselben Worten einzufordern pflegte, mit denen die USA ihre renitenten europäischen Partner nun an die Kandare nehmen wollen.

"Falscher" Befreier?

Hans Rauscher ist aber offenbar der Ansicht, dass "echte" Befreier für all ihre weiteren Vorhaben, wie fragwürdig diese auch immer sein mögen, sehr wohl Solidarität aus Dankbarkeit einfordern dürfen, nur falschen Befreiern ist dies verwehrt. Ob diese dann doch etwas schematische Binnendifferenzierung der alliierten Kriegshandlungen während des 2. Weltkriegs in echte und offenbar irgendwie falsche Befreiungskriege haltbar ist, bleibe einmal dahingestellt. Manch österreichischer Patriot, der im Widerstand an der Seite der Russen gegen die Nazis gekämpft hatte, wird dies vielleicht anders sehen.

Immerhin erlaubt die Rauschersche Konstruktion die Lösung eines alten Problems: Sollte anlässlich eines Gedenktages wieder einmal die unsägliche Frage auftauchen, ob die Alliierten 1945 Österreich eigentlich befreit oder besetzt haben, könnte man antworten: Im Westen befreit, im Osten besetzt, und in Wien saßen im Jeep stets drei echte und ein falscher Befreier. Über diese Deutung der Zeitgeschichte werden sich so manche Revisionisten sicher freuen. Mir allerdings ging es nicht um die nirgendwo geleugnete Differenz zwischen der demokratischen USA und der Sowjetdiktatur, sondern um die Frage, ob eine Befreiung ausreicht, um die Befreiten auch ein halbes Jahrhundert später auf Gedeih und Verderb an die Politik der Befreier zu binden. Zum Wesen einer echten Befreiung gehört nun einmal, dass die Befreiten danach auch so frei sind, in bestimmten Dingen anders zu denken und auch zu handeln als die Befreier.

Wer diese Freiheit mit dem Hinweis auf mangelnde Dankbarkeit versucht zu desavouieren, wird sich fragen lassen müssen, wie "echt" sein Freiheits- und Befreiungsbegriff tatsächlich ist.

Konrad P. Liessmann (DER STANDARD, Printausgabe, 15./16.2.2003)