Natürlich können Studentinnen und Studenten lesen, die Frage ist nur, was man unter Lesen versteht. Pisa hat da ein großes Unheil angestiftet, indem es den denkbar naivsten Begriff vom Lesen populär gemacht hat. Lesen ist halt mehr, ist eben nicht nur die Fähigkeit, einen Text buchstabengetreu herunterzubeten und dann eine Zusammenfassung zu bieten, Lesen im Vollsinne des Wortes ist vielerlei, vor allem soll es, gleichgültig, wie der gelesene Text nun beschaffen ist, ein Erkenntnisgewinn sein.

Kein Buch ist so schlecht, dass man daraus nicht doch irgendwas lernen könne, sagte schon Plinius der Ältere. Der junge Hofmannsthal, wahrlich ein Champion des Lesens, legt am Ende von Der Tor und der Tod dem Tod Worte in den Mund, aus denen seine Hochachtung für die Menschen spricht, weil sie Leser seien: Lesen reicht weit über das Geschriebene hinaus, doch ist das Lesen der "täglichen Schrift" (Peter Handke) immer noch das Exerzitium, um mit den Tatsachen des Lebens umzugehen.

Wenn Literaturwissenschaft einen Sinn hat, so den, dass sie anhand von Texten der Literatur das Lesen übt, und zwar so, dass auch für andere Disziplinen klar wird, was Lesen bedeutet, so das Lesen naturwissenschaftlicher, juristischer, philosophischer und theologischer Texte.

Schließlich bedarf es in jeder Disziplin einer soliden Hermeneutik, und gerade eine solche lässt sich vortrefflich an literarischen Texten einüben, einfach weil die Mehrdeutigkeit dieser Gebilde eben immer wieder zu kontroversen Deutungen herausfordert.

Natürlich können Studentinnen und Studenten lesen. Es wäre töricht, wenn man sie allesamt zu Opfern einer Fernsehkultur macht, in der das Erkennen größerer Zusammenhänge dem Terror der Videoclips zum Opfer fällt.

In den vierzig Jahren meiner Tätigkeit als Literaturwissenschafter habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Studierenden (und ich rede nur von solchen, die ernsthaft studieren, und nicht von jenen, die irgendeine Fertigkeit erlernen wollen) die Lesevorgänge auch für die Lehrer entscheidend neu prägten. Wenn Texte neu und anders gelesen wurden, vor allem seit den späten Sechzigerjahren, so ist das nicht zuletzt ein Verdienst der Studierenden. Was da durch soziologische, psychoanalytische oder meinetwegen auch postkoloniale Perspektiven hinzukam, sollten wir dankbar registrieren, auch wenn uns manches fragwürdig erscheint.

Wenn ein Student mit einem leicht provozierenden Vergnügen die Verse aus Goethes "Willkommen und Abschied" phallisch deutet, so ist das heute kein Überraschungsmoment mehr, aber das hat doch alles seinen Platz in der lebendigen Diskussion um Texte: "Schon stand im Nebelkleid die Eiche / Ein aufgetürmter Riese, da / Wo Finsternis aus dem Gesträuche / Mit hundert schwarzen Augen sah." Das sei hier nicht betont, um die Eigenständigkeit studentischer Praktiken zu verklären oder einer hermeneutischen Anarchie zu huldigen, die auch nicht weiterführt. Aber ohne solche mitunter provozierende Anlässe würden wir auf der Stelle treten und das wiederholen, was unsere Lehrer gesagt haben.

Wer heute das Lesen lehren oder auch nur üben will, hat es nicht leicht, aber aus meiner Praxis kann ich sagen, dass es immer wieder Überraschungen gegeben hat, wenn sich junge Leser an komplexen Gebilden abarbeiteten. Und die Rede von den Studierenden, die immer schlechter werden, ist schlicht obsolet, auch wenn man sich bei Prüfungen manchmal richtig grün und blau ärgern kann. Aber das ist ein Berufsrisiko. (Wendelin Schmidt-Dengler, DER STANDARD, Printausgabe, 6./7.9.2008)