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Angegriffene Myelinscheiden von Nerven ähneln Kabeln ohne schützende Hülle

Foto: AP/Deutsche Telekom, HO

Es ist eine seltene Erkrankung, doch treffen kann es jeden - Kinder oder 70-Jährige - es gibt keine demografische Einschränkung. Rund 100 bis 150 Menschen erkranken in Österreich pro Jahr am Guillain Barré Syndrom (GBS), einer Autoimmunerkrankung, die die Nerven angreift. Die Symptome schlagen meist akut ins Leben ein. Innerhalb von Tagen können Betroffene zum Pflegefall werden, sie leiden unter einer aufsteigenden schlaffen Lähmung.

"Das GBS ist eine Entzündung der peripheren Nerven und Nervenwurzeln, die Symptome fangen bei den Fingern und Zehen an", erklärt der Neurologe und Neurointensivmediziner Erich Schmutzhard von der Neurologischen Intensivmedizin an der Universitätsklinik für Neurologie Innsbruck. Generell können alle drei Kategorien an Nerven betroffen sein, die der Mensch zum Leben braucht: das motorische, das sensible und auch das vegetative Nervensystem. Letzteres regelt den Kreislauf und Funktionen wie Schwitzen und Temperaturkontrolle. Schwerste Blasen- oder Darmentleerungsstörungen gehören ebenfalls zu den Symptomen.

Akute Lebensgefahr

Das akut Gefährliche an der Krankheit: Neben Sensibilitätsstörungen und Lähmungen können Patienten innerhalb weniger Stunden und Tage auch schwere Herzrhythmusstörungen oder eine Atemlähmung erleiden. In diesen Fällen geht es darum Leben zu retten. Immerhin zehn Prozent aller GBS-Patienten fallen in diese Gruppe. Daher ist es auch so wichtig, dass Ärzte die Symptome richtig deuten und die Diagnose stellen.

"Wenn jemand nicht mehr gehen kann, ist er gefährdet schon am nächsten Tag Atemprobleme zu haben und muss wahrscheinlich beatmet werden. Und immer dann, wenn jemand vegetative Symptome hat, gehört er auf eine neurologische Intensivstation und muss beobachtet werden. Ärzte sind gefordert das rechtzeitig zu erkennen", so Schmutzhard. Seiner Meinung nach sind zumindest die akuten Fälle des GBS sofort für Ärzte zu erkennen.

Dass das in der Praxis nicht so ist und auch die richtigen Therapiemaßnahmen nicht überall verfügbar sind, weiß Christina Budimir-Halbmayr von der GBS Initiative Austria: "Ich bin in vier Krankenhäusern gewesen, ehe ich endlich die medizinische Behandlung bekam, die ich brauchte." Bei ihr sei zuerst eine schwere Psychose diagnostiziert worden. Für den Neurologen kein Wunder, er kritisiert die mit maximal zwei Monaten viel zu kurze neurologische Ausbildung für Turnusärzte in Österreich. Wichtig für die genaue Diagnose ist eine Lumbalpunktion, die Untersuchung des Nervenwassers.

Plötzlich ein Pflegefall

Für die Betroffenen ist die Verzweiflung groß, weil sie innerhalb von Tagen pflegebedürftig werden. "Das Ausgeliefertsein im eigenen Körper war für mich furchtbar", erzählt Budimir-Halbmayr. Für sie ging es um Leben und Tod, weil die Atemmuskulatur bei ihr nachgelassen hatte. Insgesamt war sie vier Wochen lang vom Hals abwärts gelähmt, dann begann sich die Lähmung langsam zurückzuziehen. Nach sieben Wochen vermochte sie recht und schlecht das Krankenhaus verlassen, wobei Sitzen, Stehen und Gehen noch enorme Probleme bereiteten. Nach der Therapie musste sie Dinge wie Essen oder Radfahren wieder neu lernen.

Gabriele Urban, Vorsitzende des Vereins GBS Initiative Austria, möchte Betroffenen eine Plattform zum Austausch bieten: "Betroffene wissen nicht, wohin sie sich mit ihren Sorgen und Problemen wenden können, weil es nur so wenige Patienten in Österreich gibt." In Deutschland sei man da schon weiter. Die Autoimmunerkrankung ist noch nicht gut erforscht, Vorreiter sind hier die USA. Vor allem auch für die Angehörigen ist Beistand wichtig: "Angehörige sind extrem gefordert und großen emotionalen Belastungen ausgesetzt sind, stehen sie doch vor einer völlig unbekannten Krankheit und deren nicht absehbaren Auswirkungen. Sie brauchen ebenfalls Unterstützung in Form von Aufklärung und psychologischem Beistand. Wenn sie stark sind, schafft es der Patient auch, diesen Ausnahmezustand zu überstehen", ist Budimir-Halbmayr überzeugt.

Autoimmunreaktion als Ursache

Verantwortlich für das GBS sind bei zwei Drittel der Betroffenen Autoimmunreaktionen auf Viren oder Bakterien. "Viele Patienten hatten zwei oder drei Wochen vor Auftreten der Symptomatik eine Grippe oder Entzündungen oder Infektionen des oberen Respirationstrakts wie Schnupfen, Halsweh, Rachen- und Kehlkopfentzündung oder Bronchitis", weiß der Neurologe. Welche Viren die falsche Immunantwort auslösen, wisse man allerdings nicht genau. Ganz besonders prädestinierten aber so genannte Zytomegalieviren dafür - sie treten vor allem bei jungen Menschen auf und verursachen das Pfeiffersche Drüsenfieber. Bei einem Drittel aller Betroffenen sind die Auslöser klassische Durchfallserreger (Bakterium Campylobacter jejuni, Anm.).

Zu gehorsame Soldaten

Im Normalfall sind es also relativ harmlose Krankheiten, mit denen viele Menschen auch arbeiten gehen. Was läuft nun aber verkehrt bei den ein bis vier Menschen von 100.000 im Jahr, die derart heftig darauf reagieren? "Bei normaler Infektionsabwehr kämpfen Antikörper gegen die Viren, damit sie nicht mehr in Zellen eindringen können oder Zellen fressen die Viren. Diese Menschen produzieren aber Antikörper, die sich an den Myelinscheiden der Nerven anheften - mit dem Lebenszweck bestimmte Eiweißmoleküle zu neutralisieren - wie blind hundertprozentig gehorsame Soldaten", erklärt Schmutzhard. Das Immunsystem ist also nicht mehr in der Lage zwischen den Eiweißen "böser" viraler oder bakterieller Eindringlinge und jener an der Myelinscheide zu unterscheiden und schaltet die falschen aus.

Die Folge: Die Myelinscheide der Nerven wird geschädigt, diese können Impulse vom Gehirn nicht mehr an die Gliedmaßen weiterleiten. Das Hirn denkt, es will die Zehe bewegen, es geht aber nicht. "Man schätzt, dass circa 80 bis 95 Prozent der Myelinscheiden blockiert sein müssen, dass der Mensch überhaupt etwas spürt", so der Neurologe.

Beim dritten Drittel weiß man die Ursache nicht. "Allerdings wissen wir, dass in dieses Drittel auch Tumorerkrankungen hineinfallen, die eine Immunantwort erzeugen. Das sind aber Einzelfälle", so der Mediziner.

Therapie

Behandelt wird mit zwei Methoden: Immunglobuline verdrängen die schädigenden Antikörper von den angedockten Stellen. Bei akuten Fällen wirken laut Schmutzhard Blutwäschen sehr gut: man wäscht damit möglichst alle falsch reagierenden Antikörper aus dem Blut. In manchen Fällen kann auch eine Chemotherapie helfen.

Langzeitschäden

Das Gute an GBS ist, dass es prinzipiell, bis auf wenige Ausnahmen, heilbar ist. Der Heilungsprozess kann allerdings Jahre dauern. Bei manchen treten Verbesserungen innerhalb von Tagen oder Wochen ein. Zehn bis 15 Prozent brauchen aber sehr viel Geduld, sie haben über Monate oder Jahre Probleme wie Müdigkeit oder dass sie keine kleineren Wanderungen machen können und müssen langwierige Rehabilitationsmaßnahmen über sich ergehen lassen.

Das Problem: jene Nerven, die am längsten sind, sind am stärksten betroffen und brauchen am längsten um sich zu regenerieren, denn die Myelinscheiden müssen wieder nachwachsen. Bei ein bis zwei Millimetern pro Tag kann das dauern. Allerdings macht diese Tatsache auch Hoffnung: noch im zweiten oder dritten Jahr besteht Hoffnung auf Besserung. Ganz selten gibt es auch chronifizierte Verläufe: "Da haben sich offensichtlich Erreger eingenistet, die der Mensch nicht mehr los wird und weswegen ununterbrochen Antikörper gebildet werden", so der Neurologe.

Unter der chronischen Form leidet GBS-Patient Franz Gringer: "Mein Zustand verschlechterte sich langsam über mehrere Monate hinweg und ich rannte von Arzt zu Arzt." Das schlimmste sei die zunehmende Hilflosigkeit. Nach vier Jahren und vielen Reha-Maßnahmen hat er nun seine Selbständigkeit einigermaßen wieder gewonnen. "Bei Freunden und Bekannten trennt sich da die Spreu vom Weizen." Seine größte Hoffnung hat er nicht aufgegeben: "Ich will wieder Schifahren", erzählt er. Und dieses Ziel hat er täglich vor Augen: in seinem Reha-Zimmer hängen Fotos von Bergen und Schnee. (Marietta Türk, derStandard.at, 29.6.2009)