Ein 5 PS-Motor treibt das kleine Piratenfloß über den Berliner Landwehrkanal.

Foto: Niederndorfer

Weht im Wind: Die Piratenflagge auf dem Landwehrkanal.

 

 

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"Eigenständiges Denken ist  Voraussetzung": Politpirat Marius.

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Die Berliner Künstlerin und Piratin Heide Hagen: "An Idealismus herrscht bei uns kein Mangel."

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Rauchschwaden von dunklem Tabak und der Geruch von verbranntem Superbenzin ziehen über den Berliner Landwehrkanal. Endlich ist der Motor angesprungen. "Alle an Bord, es geht los", ruft Heide Hagen. Mit einem Satz springt die 53-Jährige auf das vier mal vier Meter große Holzfloß, das nahe des Görlitzer Bahnhofs in trübem Gewässer vor Anker liegt. Auch Marius ist mit von der Partie. Schließlich ist der 26-jährige Physikstudent Aktivist der deutschen Piratenpartei. Und die kleine Kreuzfahrt kein Spaß, sondern Wahlkampf.

7.903 Mitglieder

Und zwar ein erstaunlich erfolgreicher: allein in den Sommermonaten holte die 2006 gegründete Partei achtzig neue Mitglieder an Bord. Pro Tag. Mitte September zählte man 7.903 Mitglieder. Die EU-Wahl im Juni zeigte das Potenzial der deutschen Piraten auf: mehr als 229.000 Wählerstimmen, immerhin 0,9 Prozent. In Schweden erreichten die Piraten mit knapp sieben Prozent ein EU-Mandat. Zur Bundestagswahl am 27. September werden die deutschen Polit-Freibeuter mit Ausnahme von Sachsen in allen Bundesländern antreten. Dafür, so das Kalkül, soll ein Thema reichen: "Transparenter Staat statt gläserner Bürger".

Crews

In herkömmliche Schemata wollen sich die Piraten nicht pressen lassen. Man verstehe sich als progressiv, heißt es. Und als basisdemokratisch, organisiert in "Crews", wie die Piraten ihre Bezirksstammtische nennen. Vier Dutzend davon gibt es mittlerweile in der deutschen Hauptstadt. Schließlich sei bloßer Netz-Aktionismus längst passé, erklärt Marius, der eine Crew in Berlin-Neukölln leitet und seinen vollen Namen nicht veröffentlicht wissen will: "Wir haben uns als formale Partei konstituiert, weil wir legislativen Einfluss brauchen, um für die Ziele unserer Generation zu kämpfen."

Zielgruppe digitale Eingeborene

Marius' Generation, das sind die "Digital Natives", Menschen, die mit dem Internet großgeworden sind. Und solche, die Möglichkeiten des Netzes weiter definieren denn als bloße Tauschbörse für mp3- und Videodateien. Dazu gehört, sich ganz dem Kampf gegen Internetzensur und für die Freiheit der Information zu widmen. Wichtigstes Ziel: die Rücknahme des 2006 beschlossenen Gesetzes, das es erlaubt, Telefon- und Internetverbindungsdaten ein halbes Jahr lang zu speichern, um mögliche Straftaten zu verhindern oder aufzuklären. Auch Familienministerin Ursula von der Leyen geriet ins Visier der Piraten. Um die Verbreitung von Kinderpornografie zu unterbinden, möchte sie Websiten sperren lassen. Für die Piratenpartei schießt die populäre Unionspolitikerin am Ziel vorbei und bereitet mit ihrem Vorstoß Internetzensur den Boden.

Als Ende Juni der SPD-Abgeordnete Jörg Tauss nach Kinderporno-Vorwürfen der Partei beitrat, stärkte man ihm demonstrativ den Rücken und nutzte den Anlass gleich zum Start des Vorwahlkampfes. Auf Tauss' Computer wurde belastendes Material gefunden, er selbst beteuert, die Daten zum Zwecke der Recherche heruntergeladen zu haben. Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft.

Bankomatkarte und Handy

Die Zeit sei reif für Piraten im Bundestag, findet Marius. "Vor zehn Jahren hatten wir noch nicht diese kritische Masse an politischen Leuten. Damals sind alle nur hinter dem Computer gesessen." Den Vorwurf, sich nur für spinnerte Internetnerds zu engagieren, lässt er nicht gelten: "Freier Informationsfluss betrifft letztlich jeden, der eine Bankomatkarte oder ein Handy hat."

Wahlziel pi

Die freischaffende Künstlerin Heide Hagen gehört mit ihren 53 Jahren zu den Realos der Piratenpartei. Zumindest, was ihre Erwartungen an den Wahlkampf betrifft. "Ich nenne das lieber Wahnkampf, weil einige dem Wahn verfallen sind, wir könnten tatsächlich einziehen." Fünf Prozent der Stimmen sind nötig, um die begehrten Sitze im Berliner Bundestag einzunehmen. Bloß fehlt Hagen der Glaube. "Ich erwarte mir pi-Stimmen", sagt sie lachend, "also 3,141 Prozent." Worum es gehe, sei Flagge zu zeigen.

Ufer und Brücken

An diesem warmen Septemberabend klappt das schon ganz gut. Der Landwehrkanal, in dem 1919 die Kommunistin Rosa Luxemburg tot aufgefunden wurde, bietet eine optimale Bühne. An dessen östlichem Ufer, dem Berliner Bezirk Friedrichshain, erreichte die Piratenpartei bei der Europawahl 3,4 Prozent. Fußgänger winken, junge Fahrradfahrer bleiben auf den Brücken stehen, um einen Blick auf das kuriose Grüppchen am Wasser zu werfen. "Meine Stimme kriegt ihr", ruft ein älterer Mann mit roter Kappe am Kopf und Bierdose in der Hand den Piraten zu. Nur das junge Paar, das sich schmusend im hohen Gras räkelt, hat für Überwachungsängste keinen Sinn.

"Notwehr"

Eigentlich wollte Heide Hagen, "so wie 80 Prozent von uns", nie einer Partei beitreten. Wie es sich für eine Piratin gehört, hat sie im Internet von der Gruppe gehört, sie erst via Mailing-List beobachtet. Und dann, vor zwei Jahren, ist sie beigetreten, "aus Notwehr", wie sie sagt.

Heute kandidiert Hagen auf Platz zwei der Berliner Landesliste. Falls die Piratenpartei allen Unkenrufen zum Trotz in den Bundestag gewählt wird, hätte die quirlige Neuköllnerin gute Chancen auf einen neuen Job. Derzeit stehen die Chancen dafür laut Demoskopen schlecht. Es wäre aber zu viel der Koketterie, hätte Hagen nicht vorgedacht: "Derzeit brauche ich zum Leben etwa 2.000 Euro im Monat. Im Bundestag verdient man wesentlich mehr. Was übrig bleibt, würde ich in die Parteikasse einzahlen." Und wenn der Rest der Republik erst einmal sieht, wie eine echte Piratin das macht, hofft sie, "können die anderen Abgeordneten gar nicht anders, als ihr Geld auch zu spenden."

Fast-Havarie

Das kleine Piratenfloß im Landwehrkanal gerät indes gehörig ins Schwanken. Das weit größere Ausflugsschiff "Schöneberg" fährt einen Steinwurf entfernt vorbei. Dessen mit Fotoapparaten und bunten Hüten bewehrten Passagiere kostet die Beinahe-Havarie der netzbewegten Hauptstädter nur ein Lachen. (Florian Niederndorfer, derStandard.at, 17.9.2009)