Washington - Eigentlich ist der Sensationsfund schon ziemlich alt. Bereits im Jahr 1994 entdeckten US-amerikanisch-äthiopische Paläoanthropologen in der Region Afar in Äthiopien ein vergleichsweise gut erhaltenes Skelett eines uralten Vorfahren des Menschen. Sie gaben ihrem einzigartigen Fundstück den wissenschaftlichen Namen Ardipithecus ramidus und veröffentlichten im Wissenschaftsmagazin "Nature" gerade einmal ein paar Absätze darüber. Seitdem herrschte Sendepause.

Nun endlich liegen - bestens ins Darwin-Jahr passend - erstmals detaillierte wissenschaftliche Analysen von Ardi vor. Und diese insgesamt elf Studien im heute erscheinenden US-Wissenschaftsmagazin "Science" machen klar, dass die 125 Knochenfragmente und Zähne "eine der bedeutendsten Entdeckungen für das Studium zur menschlichen Evolution" sind, wie etwa David Pilbeam, Kurator für Paläanthropologie des Museums für Archäologie und Ethnologie an der Universität Harvard, sagt.

Der jetzt entdeckte Humanoide ist zwar nicht der gemeinsame Vorfahr von Mensch und Schimpanse, "aber das Nächste, was wir bisher gefunden haben", sagt Tim White. In anderen Worten: "Es ist weder ein Schimpanse noch ein Mensch. Es ist ein Ardipithecus." Der Paläoanthropologe von der Universität Berkeley ist der wissenschaftliche Hauptverantwortliche der Ardi-Forschungen und genießt in Fachkreisen - auch wegen der jahrelangen Geheimniskrämerei in Sachen Ardi - nicht den besten Ruf.

Nach allem, was man bisher weiß, reichen die Entwicklungslinien von Homo sapiens und der heute lebenden Affen vermutlich sechs bis sieben Millionen Jahre zu einem gemeinsamen Urahn zurück. Ardi hat vor immerhin 4,4 Millionen Jahren gelebt - und ist damit mehr als eine Million Jahre älter als das legendäre Australopithecus-Fossil Lucy, das bisher als der älteste bekannte Urahn des Menschen galt.

So wie bei Lucy, deren Skelett ebenfalls in Afar gefunden worden war, stammen auch die Überreste Ardis von einem weiblichen Humanoiden. Die Rekonstruktionen deuten auf eine 1,20 Meter große Frau mit einem Gewicht von etwa 50 Kilogramm hin.

Überraschender Körperbau 

Ihre volle wissenschaftliche Bezeichnung wurde vor 15 Jahren gut gewählt: Gattung und Art sind aus der äthiopischen Afar-Sprache abgeleitet - von "ardi" (Erdboden) und "ramid" (Wurzel) - und bedeutet sinngemäß "Bodenaffe an der Wurzel des Menschen".

Die Anatomie Ardis nämlich, die in den Wäldern Ostafrikas lebte, weist - wohl aufgrund ihrer Anpassung an den Boden - einige echte Überraschungen auf, wie Bence Viola von der Uni Wien bestätigt. Der Paläoanthropologe hat erst kürzlich 120 km vom Ardi-Fundort Aramis nach Fossilien gegraben.

Besonders die Mischung von "primitiven" und "modernen" anatomischen Merkmalen sei "absolut erstaunlich", so Viola. Insbesondere weise Ardi viele Merkmale auf, die es bei den heutigen Menschenaffen nicht gibt. Das deutet einerseits darauf hin, dass diese Spezies nicht viel Zeit auf den Bäumen verbrachte und auf dem Boden aufrecht auf zwei Beinen ging. Andererseits lässt sich daraus schließen, dass nicht nur wir Menschen, sondern auch die Menschenaffen in den vergangenen Millionen Jahren eine viel eigenständigere und kompliziertere Entwicklung genommen haben als bisher gedacht.

Es scheint also ganz so, also ob die Vorgeschichte der Menschheit und der Menschenaffen aufgrund dieses einen Fundes wieder einmal umzuschreiben ist. Und er gibt letztlich auch jenen Darwins-Besserwissern ein wenig recht, die darauf bestehen, dass der Mensch nicht vom Affen abstammt, sondern von einem gemeinsamen Vorfahren - der ganz anders aussah als heutige Menschenaffen. (Klaus Taschwer, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2. Oktober 2009)