Gerd Schulte-Körne ist seit 2006 Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Universität München und Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Seit 1986 Forschung zu Diagnostik und Ursachen der Legasthenie.

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STANDARD: Wer ist denn nun für die Legastheniker zuständig - die Lehrer, Psychologen, Neurowissenschafter oder Genetiker?

Schulte-Körne: Alle sind zuständig, aber in unterschiedlichen Bereichen: Die Lehrer für die grundlegende Vermittlung der Kernkompetenz Lesen und Schreiben, die Psychologen in der Diagnostik, - sowohl der begleitenden emotionalen Störung als auch der zugrunde liegenden neuropsychologischen Faktoren. Die Neurowissenschafter, also die Mediziner, beim Aufdecken der Ursachen, die psychiatrisch Tätigen in der Beratung der Eltern und der Behandlung der psychischen Folgen bei den betroffenen Kindern und schließlich die Genetiker bei der Entdeckung der verursachenden Faktoren.

STANDARD: Sie haben mit Ihrer Forschungsgruppe das Gen SLC2A3 identifiziert. Wie beeinflusst dieses Gen die Entstehung von Legasthenie?

Schulte-Körne: Dieses Gen beeinflusst Hirnfunktionen, die wichtig für das Lesen- und Schreibenlernen sind. Die bisher bekannten Gene spielen bei der Entwicklung des fetalen Gehirns, bei der neuronalen Migration, der Wanderung der Nervenzellen, eine Rolle. Aber der Zusammenhang mit Genexpression und beeinträchtigter Hirnfunktion bei der Sprachverarbeitung konnte nicht gezeigt werden. Wir sprechen jetzt von einem Durchbruch, weil dieses Gen die Sprachverarbeitung, die eine zentrale Voraussetzung für das Lesen, das Sprechen und das Schreiben ist, beeinflusst. Bei all diesen Prozessen müssen Laute Buchstaben oder Buchstaben Lauten zugeordnet werden. Wenn sie die einzelnen Laute nicht richtig differenzieren, schreiben Kinder die falschen Buchstaben, verbinden die Buchstaben nicht richtig mit den Lauten.

STANDARD: Nun kennt man einige Legasthenie-Gene, was kann man mit diesem Wissen in der Praxis anfangen?

Schulte-Körne: Dieses Wissen gibt uns erstmals die Möglichkeit, dass wir sehr früh Risikokinder identifizieren und sehr spezifisch die Förderung planen können. Schon ganz gezielt im Vorschulalter. Wir gehen davon aus, dass dieses Gen ein Risiko-Gen ist. Das heißt, dass Kinder mit diesem Gen ein erhöhtes Risiko haben, Legasthenie zu entwickeln. Wir gehen davon aus, dass wir mit früher Sprachförderung die Voraussetzungen der Kinder für das Lesen- und Schreibenlernen, für die Schule, deutlich verbessern können.

STANDARD: Wann könnte man mit der Frühförderung beginnen?

Schulte-Körne: Bei den Kindern, die das Risiko haben, könnte man schon in der Phase, wenn sich das Gehirn entwickelt, ab dem ersten, zweiten Lebensjahr, gezielt Sprachförderung betreiben, und dann müsste man natürlich zeigen, dass dies das Risiko, Legasthenie zu entwickeln, auch mindert.

STANDARD: Könnte man auch mit Medikamenten intervenieren?

Schulte-Körne: Nein, diese Veränderung an dem Glukosetransporter, der beeinflusst wird, eignet sich nicht primär für eine Medikation.  (Jutta Berger, DER STANDARD, Printausgabe, 12.10.2009)