Man hat aus der großen Weltwirtschaftskrise gelernt, sagt Kurt Rothschild. Er wurde damals politisiert und sozialisiert - und vermisst heute eine "Unterschicht, die eine bessere Welt will".

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Der Wiener Ökonom Kurt Rothschild ist enttäuscht, dass über Reformen "nur geredet" wird. Was Anna Netrebko und Josef Ackermann eint und trennt (Gehalt und Hübschsein), und wie Österreich ihm selbst nach seiner Rückkehr aus dem Exil begegnete, fragte Renate Graber.

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STANDARD: Als ich Sie gefragt habe, ob Sie mit mir in einem Interview über Gott und die Welt reden möchten, sagten Sie: Über die Welt schon. Weil Sie Agnostiker sind?

Rothschild: Ja.

STANDARD: Man kann auch so gut leben?

Rothschild: Sicher. Aber nicht so, wie das Gott gerne hat.

STANDARD: Sie kommen aus einer jüdischen Familie, hat das Judentum keine große Rolle gespielt bei Ihnen?

Rothschild: Schon, deshalb bin ich ja 1938 aus Österreich weggegangen. Aber sonst war der Religionsunterricht schon alles, ab meiner Pubertätszeit war ich Freidenker.

STANDARD: Sie wurden diese Woche 95, zu Beginn der Weltwirtschaftskrise, 1929, waren Sie 15 Jahre alt. Sehen Sie Parallelen zwischen heutiger und damaliger Krise?

Rothschild: Die Gemeinsamkeit der Krisen besteht in ihrer Tiefe und darin, dass Real- und Finanzwirtschaftskrise ineinander greifen. Durch zwei Faktoren unterscheiden sie sich aber absolut voneinander: Damals waren die Leute schon arm, bevor die Krise kam; heute sind die betroffenen Länder relativ reich. Da ist Arbeitslosigkeit zwar genauso ein psychisches Problem, aber die Auswirkung auf den Lebensstandard ist bei weitem nicht vergleichbar. Und man hat aus der Krise einiges gelernt, daher ist es diesmal gelungen, nicht so tief zu fallen. In den Dreißigern kam man auf 25 Prozent Arbeitslosigkeit.

STANDARD: Was hat man diesmal besser gemacht?

Rothschild: Damals hat der Staat gespart, was die Bankenkrise beschleunigt und dazu geführt hat, dass die ohnedies geringe Nachfrage katastrophal gesunken ist. Man hat nun gelernt, dass der Staat gerade in schwierigen Zeiten seine Ausgaben erhöhen muss.

STANDARD: Der Mensch lernt doch aus der Geschichte?

Rothschild: Ein bisschen lernen wir. Aber ob das rasch genug ist?

STANDARD: Sie monieren tief greifende Reformen und strengere Regulierung, aber die Banken machen schon wieder ihre Investmentgeschäfte, die Aktienkurse steigen. Kommt da schon die nächste Blase?

Rothschild: Weder ich noch die anderen haben diese Blase vorhergesagt, also wie soll ich die nächste vorhersagen? So rasch sind wir nicht gescheiter geworden. Ich habe auch kein Patentrezept, aber die Banken müssten risikobewusster werden, mehr Eigenkapital bilden, die Steueroasen müssen kontrolliert oder beseitigt werden, bei Spekulationswellen muss man frühzeitig eingreifen, um zu verhindern, dass sie sich so enorm wie zuletzt entwickeln. Und man braucht eine Aufsichtsbehörde, die wirklich eine Rolle spielt.
Im Kern geht es um eine ganz harte politische Frage: Darum, den enormen finanzwirtschaftlichen Komplex unter Kontrolle zu bringen, der in den vergangenen dreißig Jahren entstanden ist und mit dessen neuen Möglichkeiten enorme Gewinne zu machen sind. Zu Beginn der Krise war die starke Bereitschaft zu Reformen da, aber die große Chance ist vertan. Ich bin enttäuscht, dass nur geredet und nichts getan wurde. Man hat Geldströme in die Banken geführt, ohne irgendwelche personellen Forderungen etwa für Aufsichtsräte zu stellen. Man lässt den Apparat ungestört und sagt, man wird ihn kontrollieren. Aber der Apparat kontrolliert die Politik, nicht die Politik den Apparat.

STANDARD: Die Politik kennt sich ja nicht aus in dem System.

Rothschild: Die Leute, die die Zusammenhänge im Griff haben und das System verstehen, haben das größte Interesse, dass daran nichts geändert wird. Weil sie die Gewinner der Situation sind.

STANDARD: Sie nennen Banken Spekulationsbetriebe...

Rothschild: ...stammt nicht von mir, aber ich bin bereit, das zu unterschreiben. Es ist nicht zu übersehen, dass es so ist. Wenn Sie Glück haben, versteht die Bank, welches Papier sie Ihnen verkauft.

STANDARD: Sie sagten jüngst auch, es sei "moralisch richtig" gewesen, die Investmentbank Lehman Brothers fallen zu lassen. Die weltweiten Auswirkungen waren aber fatal.

Rothschild: Wir reden immer von Incentives. Banken haben einen sehr starken Incentive zu spekulieren, weil sie damit sehr hohe Gewinne machen können. Wenn sie nur groß genug sind, haben sie gleichzeitig die Sicherheit, dass sie der Staat auffängt, wenn sie versagen. Es gibt Finanzwissenschafter, die meinen, es solle keine großen Banken geben, dann könnte man sich auch leisten, welche fallen zu lassen. In Amerika sind ja auch tausende Banken in Konkurs gegangen.

STANDARD: Und jetzt haben die Banken dank staatlicher Hilfen zwar Geld, die Kunden klagen aber, dass sie es nicht bekommen: Kreditklemme. Paradox?

Rothschild: Nein, das hat alles seine Logik. Es wurde eine globalisierte, liberalisierte, private Welt geschaffen, die für Unternehmen, die global arbeiten und große Geldmittel zur Verfügung haben und gerettet werden, wenn sie versagen, sehr schön ist. Die waren auch zufrieden, die Verlierer sind es weniger.

STANDARD: Wer sind die Verlierer?

Rothschild: Das breite Publikum, das schuldlos vertraut hat, aber nicht ganz schuldlos ist, weil es an die Versprechungen geglaubt hat.

STANDARD: Da wurden über Jahre dicke Renditen versprochen, die konnte ja niemand auf Dauer erwirtschaften. Waren die Anleger nicht auch sehr naiv?

Rothschild: Schon, aber den kleingedruckten Warnhinweis ganz unten: "Die Vergangenheit ist keine Garantie für die Zukunft" konnte nur jemand lesen, der wirklich ganz besonders gut lesen konnte. Dafür ist der Ausdruck Kasinokapitalismus, den Keynes geprägt hat, ja noch freundlich, weil im Kasino kenne ich mein Risiko genau, weiß, dass es enorm groß ist und man sieht auch, wohin die Kugel rollt. Aber hier hat man Anleger in angeblich mündelsichere Geschäfte gedrängt, nur, um mehr Mittel für Spekulation zur Verfügung zu haben.

STANDARD: Das war der Turbokapitalismus - oder lebt er nun doch weiter?

Rothschild: Es braucht kein eigenes Wort dafür. Die Form des Kapitalismus, die da entstanden ist, ist ein Gegenstoß zur wohlfahrtsstaatlichen Idee. Wenn die Krise lang dauert, werden die Leidtragenden früher oder später nach rechts oder links radikal werden. Was dann kommt, wissen wir nicht.

STANDARD: Viele sagen, die Gier sei schuld. Zu platt?

Rothschild: Was ist Gier? Wir leben in einem Wirtschaftssystem, das seine zweifellos vorhandenen Erfolge wie Wirtschaftswachstum dem Faktum verdankt, dass es die Leute reizt, zu versuchen mehr zu bekommen. Davon lebt das System. Wenn jemand eine größere Wohnung haben will, dann ist das nicht Gier. Geht es aber nur noch ums Konzept des Mehr-haben-Wollens, nur darum, mehr zu haben als die anderen, und das nimmt kein Ende, dann können Sie das Gier nennen. Früher hatte man immer Angst, es gäbe irgendwann eine Sättigung; die utopische Idee war, dann müsse man nur noch einen Tag in der Woche arbeiten und dann würden alle glücklich.

STANDARD: Am Vormittag in der Werkstatt, am Nachmittag fischen, nannte das Marx sinngemäß.

Rothschild: Das war das Utopische. Aber die Sättigung kommt nicht, das System braucht das Wachstum. Und die Werbung sagt: Kauf, kauf, kauf, sei gut zu dir. Das ist überall so, sogar im Sport.

STANDARD: Sie waren als Professor in Linz dafür bekannt, dass Sie mittags immer spazieren gingen, mit Studenten und Assistenten.

Rothschild: Der Wald war ja nahe, und wir hatten sogar einen Teich. Aber wir waren nicht fischen, am Nachmittag. Und zum Sport: Als ich jung war, war der Hauptvorteil von Tennisspielern, dass sie in der Welt herumgeschickt wurden, viel Geld haben sie nicht gemacht. Sie waren sehr entspannt, haben gespielt und einander nachher die Hand geschüttelt. Heute sehe ich hasserfüllte Blicke - aber da entgehen dem, der das Match verliert, eben auch 500.000 Euro. Zum Karrieremachen im kapitalistischen Sinn gehört, dass es für höhere Leistung mehr gibt. Da ist man, wie Hermann Maier, bereit, sich zu ruinieren, bis man aufhört.

STANDARD: Er hat sogar geweint.

Rothschild: Er hat um sich geweint.

STANDARD: Sportler verdienen mehr als Manager: Das ist in der Bonus-Debatte ein Lieblingsargument von Bankchefs. Wie sehen Sie das?

Rothschild: Im marktwirtschaftlichen System drücken hohe Preise Knappheit aus, und weil Manager rar sind, haben sie hohe Gehälter. Die könnte man höher besteuern. Wenn Anna Netrebko sehr viel verdient, regt man sich nicht so auf. Weil ihr Gesang gefällt eben vielen - und außerdem ist sie hübscher als Ackermann. (Chef der Deutschen Bank; Anm.)

STANDARD: Sie halten es zwar mit Karl Valentin "Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie in die Zukunft gerichtet sind". Aber sehen Sie optimistisch oder pessimistisch in die Zukunft?

Rothschild: Jeder Wissenschafter - also falls Ökonomen Wissenschafter sind - sagt, man soll skeptisch sein. Normalerweise erstellen wir Szenarien, die wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher sind. Aber derzeit sind wir in einer völlig neuen Situation, und für die haben wir nur unzureichende ökonomische Theorien und Modelle.

STANDARD: Ökonomen sind aber schon Wissenschafter?

Rothschild: Nachdem ich Ökonom bin, würde ich das gern so haben.

STANDARD: Sie wollten eigentlich Physiker werden, haben dann aber in Wien Jus studiert. 1938 mussten Sie flüchten, kamen 1947 als angesehener Ökonom zurück, bekamen dann als Linker im konservativen Österreich erst 1966 eine Professur. Sie sagten einmal, es ginge Ihnen um "Gerechtigkeit, damit alle leben können"...

Rothschild: Für jeden Sozialisten ist Gerechtigkeit ein wichtiges Anliegen. Ich habe mich mit sozial wichtigen Themen wie Arbeitslosigkeit beschäftigt, geprägt von meiner Studienzeit: Ich war ja in der Dollfuß-Zeit an der Universität Wien.

STANDARD: Mit 24 flohen Sie über die Schweiz nach Schottland, hatten ein Stipendium für Glasgow. Kurz vorher haben Sie geheiratet...

Rothschild: ... wir mussten...

STANDARD:  ... weil Ihr Schwiegervater seine Tochter sonst nicht hätte gehen lassen...

Rothschild: Genau.

STANDARD: Ihre Schwiegereltern waren mit Kreiskys befreundet?

Rothschild: Nein, aber meine Schwester hat mit dem kleinen Bruno Kreisky im Drasche-Park im Sand gespielt.

STANDARD: Sie waren dann in den 70ern einer von Kreiskys Experten?

Rothschild: Kreisky hat einmal im Jahr an die 30 Ökonomen eingeladen, ich war einer von ihnen. Da fuhr man in seine Villa, und er hat geredet, so ungefähr war das.

STANDARD: Sie studierten in Schottland Nationalökonomie, hielten Vorlesungen, veröffentlichten in Maynard Keynes' Zeitschrift. Was hat Sie dazu gebracht, 1947 zurückzukehren? Ihre Mutter ist im KZ umgekommen, Österreich hat Sie verfolgt und vertrieben, die Österreicher haben Sie nicht zurückgebeten, sich nicht entschuldigt...

Rothschild: ... zu denen bin ich ja nicht zurückgekommen.

STANDARD: Aber die waren doch da.

Rothschild: Leider, aber diese Situation hatte ich vorher auch gehabt. Die Österreicher, auf die ich Wert gelegt habe, waren anders. Und wir sind auch in Schottland Österreicher geblieben, ich war ein österreichischer Flüchtling. Wir haben uns mit österreichischen Fragen beschäftigt, hatten unsere Organisation, unsere Zeitschrift. Der Gedanke, dass es ein anderes Österreich geben wird, war sehr optimistisch, aber er war da.

STANDARD:  Ich finde es erstaunlich, dass Sie als glühender Patriot zurückkamen.

Rothschild: Ich war kein glühender Patriot. Aber ich bin in Österreich geboren und das ist ein Schicksal, das sich nicht mehr ändern lässt. Und wenn schon Österreich, dann Wien. Ich weiß nicht, wie das gewesen wäre, wenn ich aus Kärnten gekommen wäre. Wobei: Kärnten war, als ich zurück kam, das einzig sozialdemokratisch regierte Bundesland.

STANDARD: Sie kamen mit Empfehlungsschreiben von Friedrich August von Hayek ins Wifo, habilitierten sich...

Rothschild: Ich habe mich zunächst nicht habilitiert. Denn dem Ökonomen Josef Steindl wurde damals die Habilitation verweigert, weil seine Arbeit in Englisch verfasst war. Da dachte ich mir: "Habt's mich gern". Aber dass die Universität reaktionär war, wusste man. Freud wurde auch nie ordentlicher Professor. Da hat einen nichts mehr gewundert.

STANDARD: Und dann hat ein rechter Professor Ihre Habilitation unterstützt. Typisch österreichisch?

Rothschild: Schon. Er war ein deutscher Liberaler - aber kein Westerwelle, sondern ein echter Liberaler. Er hat mir vorgeschlagen, mein Buch "Theory of wages" einzureichen, und es wurde angenommen.

STANDARD: Trotzdem waren Sie zu links für Österreich, erst 1966 wurden Sie an die neue Universität in Linz berufen. Hat Sie das gekränkt?

Rothschild: Nein, ich habe ja nicht Teller gewaschen, sondern hatte einen schönen Posten, war gern im Wifo. Und man umgab sich mit fortschrittlichen, interessanten Leuten, die etwas bewegen wollten. Wissen Sie, als ich jung war, da gab es eine entsetzlich reaktionäre Oberschicht und eine Arbeiterschaft, von der ein Teil eine andere Welt wollte. Jetzt ist es fast umgekehrt. Wir haben eine sehr kritische intellektuelle Oberschicht, aber wegen der veränderten ökonomischen Bedingungen fehlt eine breite Unterschicht, die eine andere, eine bessere Welt will.

STANDARD: Letzte Frage: Worum geht's im Leben?

Rothschild: (lacht) Keine Ahnung. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24./25./26.10.2009)