Wien - Auch wenn es seltsam klingen mag, selbst Reality-TV- und Casting-Formate wie "Austria's Next Topmodel" folgen dem klassischen Grundmuster aller Mythologien. Sie lehnen sich an die archetypische Grundstruktur der "Heldenreise" an. Immerhin wird ja hier nicht die Kamera mitten ins pralle Leben gehalten, um zu sehen, was dieses dann so alles anstellt. Etwa, wenn der Zufall mit Slapstick auf Hausbesuch in die Model-WG kommt. Wirklichkeit wird in solchen Sendeformaten selbstverständlich inszeniert, zur sendekompatiblen Drastik verdichtet.

Wenn es also ab Mittwoch wieder Nervenzusammenbrüche, Zickenkriege und High-Heel-Tragödien während Waldlauf-Challenges setzt und oben vom Olymp die Götter der Jury sich einmal grausame Scherze mit ihren Heldinnen erlauben, einmal gütig-helfend eingreifen, erlebt man nichts weniger als jenen Stoff, aus dem die Träume seit jeher professionell gemacht werden.

Vom Märchenerzählen am Lagerfeuer erklärt sich das Genre über den Odysseus, Parzival oder Wilhelm Meister herauf bis zum "Herrn der Ringe". Es folgen Star Wars, Conan, alle Filme von und mit Mel Gibson sowie Harry Potter. Es geht über die "Lindenstraße" runter zu Dieter Bohlens Memoiren. Und es kommt 2009 mit "Austria's Next Topmodel" für die ganz eiligen Konsumenten möglicherweise ganz zu sich selbst.

Bausteine bleiben gleich

Alle Mythen, Märchen und Religionen lassen sich, so US-Mythenforscher Joseph Campbell 1948 in seiner Grundlagenstudie "Der Heros in tausend Gestalten", immer wieder neu aus den immer wieder selben Bausteinen zusammensetzen. Ausgehend von der Archetypen-Lehre C. G. Jungs wollte Campbell verdeutlichen, dass die großen Menschheitsmythen alle zu ähnlichen Wahrheiten kommen und mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede aufweisen.
Zwölf Stationen benötige es, so Campbell, bis der Held, die Heldin am Ende siegreich die Welt oder etwas in der Art regiert oder befriedet, erlöst oder gerettet hat. Nach einer Erfahrung des Mangels ("Ich bin kein Topmodel"), erreicht den Helden der „Ruf" ("Du kannst Topmodel werden"). Der Held zögert, überwindet dies und macht sich auf die Reise - auf dem längsten Catwalk der Welt.

Probleme treten auf, Prüfungen werden dem Helden auferlegt (Bikini-Shooting im Schnee). Aber auch übernatürliche Hilfe von Mentoren naht (Choreografinnen, Visagisten). Der Kampf gegen innere (Hunger) und äußere Feinde folgt (im Märchen: der Drache, aktuell: eine Styleexpertin). Darauf folgen Initiation und Transformation (der Held lernt auf Stöckeln zu gehen). Verweigerung der Rückkehr („Ich lass' mich nicht aus der Model-WG schmeißen"), das Finden des "Elixiers". Schließlich das Verlassen der "Unterwelt", Rückkehr und Auferstehung walken einher mit neu gefundenem Wissen, das er mit der Welt teilt ("Endlich Topmodel und weise, jeder Walk ist ein Catwalk!").

50 Jahre später nahm US-Drehbuch-Guru Christopher Vogler die Arbeit Campbells zum Anlass, um diese Erkenntnisse für Film und Fernsehen in der Hollywood-Bibel "Die Odyssee des Drehbuchschreibers" (Verlag Zweitausendundeins) als praktische Vorlage für jede Heldensaga wie Castingshow zu komprimieren. Sie empfiehlt sich als Begleitlektüre zu Austria's Next Topmodel. Sie werden jede Menge Spaß haben. Versprochen. (Christian Schachinger/DER STANDARD; Printausgabe, 25.11.2009)