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Foto: APA/HELMUT FOHRINGER

Die Laufschritte kommen schnell näher. Ihre rechte Hand ballt sich in der Jackentasche um das Springmesser zur Faust. Noch fünf, vier, drei, zwei Schritte. Sie dreht sich um, den kalten Schweiß auf der Stirn, zieht die Hand aus der Tasche und lässt die Klinge aufschnappen. Bereit zuzustechen steht sie da - am Gehsteig in der Wiener Innenstadt, mitten im Getümmel des morgendlichen Frühverkehrs.

Und während Männer in Anzügen und Frauen in eleganten Mänteln auf dem Weg zur Arbeit an ihr vorbeihasten, starrt der vermeintliche Angreifer - ein junger Mann der dem Bus nachläuft, der eben neben ihr zum Stehen kommt - mit schreckgeweiteten Augen auf die glänzende Stahlschneide. Dann verschwindet er im Wagen. Sie steckt mit zitternder Hand das Messer zurück in die Tasche; erleichtert und wütend zugleich. Erleichtert, weil ihr nicht - wie erwartet - ihr Mann gegenüberstand. Wütend, auf das nervliche Wrack, in das sie sich verwandelt hat.

Seit mehr als zwei Monaten liegt Katrin W*.s Leben in Scherben. Zerschlagen von ihrem Mann. Seit mehr als zwei Monaten pendelt sie zwischen Frauenhaus und den Couchen diverser Freunde. In der einen Jackentasche Pfefferspray und Springmesser, in der anderen die Einstweilige Verfügung (EV), die das Gericht verhängt hat.

3.961 Anzeigen wegen Gewalt in der Familie verzeichnete die Wiener Polizei laut des Tätigkeitsberichts der Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie 2008, 2.197 waren es im ersten Halbjahr 2009. Mehr als 90 Prozent der Opfer sind weiblich, die meisten zwischen 31 und 40 Jahre alt. Für die 32-jährige W. waren das bisher lediglich trockene Statistiken. Mittlerweile kann sie den Zahlen Gesichter und Lebensgeschichten zuordnen, und auch ihre wird in der Statistik 2009 aufscheinen. Eine Nummer unter „Drohung mit Messer" und „Drohung mit sonstiger Waffe".

„Ich würde sofort gehen"

„Würde mich ein Mann schlagen, ich würde sofort gehen", hatte W. immer gesagt. Bis zu jener Nacht im vergangenen Oktober, als es passierte. „So fühlt es sich also an", dachte sie am Morgen danach, während sie mit den Fingern ihr Nasenbein abtastete. Es war stark geschwollen und links unter dem Auge spürte sie einen stechenden Schmerz, der sich bis zu den Schneidezähnen zog. Sie starrte auf das Keramikbrautpaar, das vor ihr auf dem Couchtisch stand: Ein dickbackiger strahlender Bräutigam, der unter einem geschwungenen Herz aus Draht seiner ebenso dickbackigen Braut den Hals küsst. Das Paar hatte vor wenigen Monaten auf ihrer Hochzeitstorte gestanden.

Sie stand auf, ging zum Fenster und lehnte sich hinaus. Zweiter Stock, Altbau. Zu hoch um zu springen. In wie viele Streifen müsste man ein Leintuch zerreißen, um aneinandergeknüpft daran hinunterklettern zu können? Sie drehte sich Richtung Wohnzimmer. Auf der Couch neben ihr lag ihr Mann in unruhigem Schlaf. Die Bettdecke mit den getrockneten, beinahe schwarzen Blutflecken zwischen die Oberschenkel geklemmt. Abgesehen davon erinnerte nichts an den Wahnsinn der vorherigen Nacht: Als er ihr, nach einem Streit eine derart heftige Ohrfeige verpasste, dass sie rücklings durchs Badezimmer taumelte und durch die geschlossenen Kunststoffschiebetüren in die Dusche krachte. Als er sie an den Haaren hochzog, und zur Nächsten ausholte, war es ganz still in ihr. Obwohl er mit einer Rasierklinge vor ihrem Gesicht herumfuchtelte und immer wieder in seine nackte Bauchdecke schnitt, irre vor Wut.

Seine Verwünschungen, seine Mord- und Selbstmorddrohungen - sie drangen nur sehr gedämpft an ihre Ohren. Alles erschien ihr wie in Zeitlupe, als hätte er die Welt gebremst. Auch als er sich über sie beugte, und ihr sein Blut auf die Stirn tropfte, war ihr, als würde das alles nicht wirklich geschehen. Mit langem Hals, weil er ihren Pferdeschwanz um seine Faust gewickelt hatte, starrte sie ihm mit einer Seelenruhe in die Augen, die ihr völlig fremd war. Komisch eigentlich, an was man in einer solchen Situation denkt. Nicht etwa, dass sie vor lauter Angst ihr Leben an sich vorbeiziehen hätte sehen. Etwas völlig anderes: Sie entdeckte den Lurch, der in der Ecke am Plafond hinter dem zornverzerrten Gesicht hing. Und als hätte sie ihre Gedanken laut ausgesprochen, wurde er noch wütender über ihre mangelnde Konzentration und die nächste Ohrfeige war so kraftvoll, dass sie mit dem Kopf nach hinten an die Kachelwand schlug. So ist das, wenn man mitten in der Nacht verprügelt wird. Keiner der Nachbarn will es hören.

„Du gehst nirgendwo hin"

Am nächsten Tag folgte reuig die tränenschwere Aussprache. „Nie wieder" würde so etwas passieren, beteuerte er. „Noch einmal, und ich bin weg", beschwor sie. In der darauffolgenden Woche der positive Schwangerschaftstest. Endlich. Die Freude war bei beiden groß und die Erinnerung an diese Nacht verblasste schnell. Beinahe: In ihrem Handy hatte sie die Notrufnummer der Polizei als Kurzwahl hinterlegt.

Es folgten ruhigere Wochen. Bis zu jenem Sonntag: Sie waren mit einer Freundin verabredet gewesen. Der Grund des Streits war eine lächerliche Kleinigkeit gewesen. Ein Wort ergab das andere, bis sie sich schließlich weigerte mitzukommen. Sie konnte förmlich in seinen Augen sehen, wie sich Vernunft, Verstand und der Mensch, den sie kannte und liebte verabschiedeten und an ihrer statt der jähe Zorn die Kontrolle übernahm.

Er ohrfeigte sie vom Wohnzimmer ins Vorzimmer und wieder zurück. Als sie ihre Haare endlich aus seinem Griff befreien konnte, lief sie bloßfüßig, in Unterhose und T-Shirt zur Wohnungstür, wo er sie einholte. „Wo willst du hin?", schrie er und warf sich gegen die Tür. „Weg von dir. Von jetzt an bin ich nicht mehr deine Frau."  Er zerrte sie zurück ins Wohnzimmer, setzte ihr die 30 Zentimeter lange Klinge des japanischen Schwertes, das sie ihm zur Hochzeit geschenkt hatte, an den Hals und sagte: „Du gehst nirgendwo hin. Setz dich und halt die Klappe, sonst schneide ich dir den Hals durch."

„Die meisten gehen zurück"

Knappe zwei Wochen später bezog Katrin W. ein Bett in einem der vier Wiener Frauenhäuser. Sowohl die Polizei, als auch die Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie hatten ihr dringend dazu geraten, nachdem es einen weiteren Zusammenstoß gegeben hatte, als W. Gewand aus ihrer Wohnung holen wollte. „Wenn unserem Baby etwas passiert; wenn du es verlierst, oder abtreibst, bringe ich dich um und wenn du es bekommst, dann werde ich es holen und du wirst es nie wieder sehen", hatte er gesagt. Dass sie entkommen konnte, war reines Glück: Der Stoff ihres Pullovers war gerissen und ehe er nach dem Küchenmesser griff, war sie bereits die Stiegen hinunter und auf die Straße gelaufen und ins nächste kommende Taxi gesprungen. Tags darauf zeigte sie ihn an.

Als sie auf der Wachstube saß und ihre Aussage machte, rief er 75 Mal auf ihrem Handy an. „Wenn du nicht sofort abhebst, dann bringe ich mich um", schrieb er ihr per SMS. Sie antwortete nicht.

„Wir haben etwa 30 solcher Fälle pro Monat und die meisten Frauen gehen wieder zu ihren Männern zurück", sagte die Revierinspektorin. „Tun Sie das nicht. Solche Männer ändern sich nicht. Es wird nur immer schlimmer."

Er wurde verhaftet, verhört und danach auf freiem Fuß angezeigt. Im Protokoll seiner Vernehmung konnte sie später lesen: „Ja, ich wollte meiner Frau den Hals durchschneiden." Auf die Frage, ob er von der Schwangerschaft wisse sagte er: "Ja, deshalb habe ich sie auch nur ins Gesicht geschlagen." Ihr gemeinsames Baby hat sie eine Woche später im dritten Monat abgetrieben; die Scheidung eingereicht, ein Betretungsverbot für die gemeinsame Wohnung und bei Gericht eine Einstweilige Verfügung erwirkt.

„Ich vermisse den Trottel jede Sekunde"

Doch trotz der lähmenden Angst, die sie dazu zwang jedes Mal, wenn sie das Haus verließ erst vom Fenster aus die Straße abzusuchen, hatte sie solche Sehnsucht nach ihm, dass sie nachts kein Auge zubekam. Sehnsucht nach demjenigen, der er war, wenn nicht der Zorn regierte. Irrational für Freunde und Familie. Normal für die Bewohnerinnen des Frauenhauses. 557 Frauen und deren 514 Kinder fanden 2008 in den Wiener Frauenhäusern Unterschlupf, für ein Viertel von ihnen war es bereits der zweite oder dritte Aufenthalt.

„Ich vermisse den Trottel jede Sekunde", sagte W.s Bettnachbarin. Neun Jahre lang hatte ihr Freund sie geprügelt. Durch ihre mehrfach gebrochene Nase kann sie nachts kaum atmen. Ihr Körper ist übersät mit langen roten Narben: Wenn er sie einsperrte, schnitt sie sich so tief, dass er die Rettung rufen musste. Angezeigt hat sie ihn bis heute nicht. Aus Angst vor der Rache seiner Familie. Über das Geschehene mit Außenstehenden zu sprechen, ist schwierig: "Man schämt sich, es tut weh und außerdem versteht es keiner."

Nach zwei Wochen im Frauenhaus und täglichen unbeantworteten Anrufen ihres Mannes, schrieb ihm W. ein Mail. Sie habe die Scheidung eingereicht und das Kind sei weg. „Schick es nicht ab", warnte ihre Bettnachbarin. „So hat es bei mir nach jeder Trennung wieder begonnen: Du meinst, du schreibst noch ein allerletztes Mal, dann triffst du dich noch ein allerletztes Mal und plötzlich geht alles wieder von neuem los. Ich weiß, es ist schwer, aber es klappt nur, wenn man gar keinen Kontakt mehr hat. So lange du noch etwas zu sagen hast, bedeutet das, dass du noch etwas von ihm willst." Sie selbst war seit nunmehr drei Monaten untergetaucht, war praktisch unsichtbar geworden; hatte Job gewechselt und den Kontakt zu allen Freunden gekappt. "Sicher ist sicher", sagte sie.

„Ich weiß, das klingt absurd"

Katrin W. schickte die Nachricht trotzdem ab und ihre Mitbewohnerin sollte recht behalten: Die beiden trafen sich und die Sehnsucht wog schwerer als die Vernunft. Rund die Hälfte aller, von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen beantragen keine Einstweilige Verfügung, sprich ein Verbot, sich dem Opfer zu nähern oder es zu kontaktieren. Der Grund: Sie wollen ihrem Partner noch eine Chance geben. Vergebens, denn in der Praxis bedeutet eine weitere Chance, meist weitere Hiebe.

Die Polizei riet W. wenn möglich den Arbeitsplatz zu wechseln oder ins Ausland zu gehen. Letztendlich entschied sie sich umzuziehen. Ihr Handy ist seit Wochen abgeschaltet. Die Trennung durchzuziehen kostet viel Kraft: „Mein Verstand weiß, dass er sich nicht ändern kann, selbst wenn er es noch so sehr wollte, aber mein Herz will nicht loslassen", sagt sie und fügt hinzu: „Ich weiß, das ist absurd. Aber wahrscheinlich kann das niemand verstehen, der so etwas nicht selbst erlebt hat." Es klingt wie eine Entschuldigung. (bock, derStandard.at, 13.01.2010)