Heavy Rain (Quantic Dream/Sony) erscheint am 24. Februar für PlayStation 3.

Foto: SCEA
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Kolumnist Tim Rogers präzisierte vergangene Weihnachten in einem seiner exzellenten Exzerpte über das Befinden der Videospielbranche eine wesentliche Problematik moderner Games. Die Entwickler sind in einer Einbahnstraße angelangt, in der sie Videospielerlebnisse mit Action-Elementen gleichsetzen. Ob man springt, schießt oder mit dem Schwert um sich schwingt, die Hand-Augen-Koordination ist Dreh und Angelpunkt praktisch aller virtuellen Werke (Rätselspiele ausgeschlossen). Geschichten treten in den Hintergrund, verpacken bloß vertraute Gameplay-Mechaniken, anstatt selbst zum eigentlichen Geschehen zu werden. Wenn man heute sogar einen Story-betonten Titel wie "Grand Theft Auto" oder "Uncharted" spielt, muss man zur Lösung über hunderte Leichen gehen. Beim Leinwandvorbild Indiana Jones wäre das karikierend. Braucht es diese Spiel-Routinen wirklich, um den Spieler zu unterhalten?

So gut wie kein Hersteller wagt sich daran, intellektuell anspruchsvollere Themen als Grundlage für ein Videospiel-Erlebnis heranzuziehen. Gefühle, Zwischenmenschlichkeiten, lebensnahe Konflikte stehen nicht zur Debatte. Das hat natürlich seine Gründe. Aus rein wirtschaftlicher Sicht der Medienindustrie stellt Tiefgründigkeit in erster Linie ein Risiko dar. Shooter, Jump'n'Runs, Rennspiele sind funktionierende Konzepte. Ein Game, das auf bewährte Konzepte verzichtet, müsste sich erst beweisen. Ein weiterer Stolperstein für große Dramen in Videospielen ist, dass in dieser Ausdrucksform Technik eine bedeutend größere Rolle einnimmt, als bei Musik, Literatur oder im Kino. Nach dem Bau des Grundgerüstes, der Realisierung der Software in Form von Artdesign und Spielmechanik, bleibt nur noch ein relativ geringer Teil des Budgets für Drehbuch und künstlerische Entfaltung über.

Gegen den Strom

Mit "Heavy Rain" erscheint dieser Tage genau aus diesen Gründen ein geradezu revolutionäres Werk, bei dem die Erschaffer scheinbar gegen jedwedes bessere kommerzielle Wissen handelten. Die Geschichte, die Erzählung, die Charaktere und deren Gefühle treten ins Zentrum und das Spiel rückt als Mittel zum Zweck in den Hintergrund. Was seit jeher als vorausgesetzt galt, wird über Bord geworfen. Keine Schießbuden, keine abstrakten Rätsel, keine technisch komplizierten Sprungeinlagen - Heavy Rain wagt es den Inhalt und die Handlung zum Spiel selbst zu machen. Was man erlebt sind Emotionen, persönliche Schicksale, menschliche Dramen in einer mitreißenden Mörderjagd, wie sie sonst nur auf der Leinwand zu sehen ist.

Kindermörder im interaktiven Film

Wenn man eine Schublade braucht, könnte man Heavy Rain als interaktiven Film einordnen. Das Drehbuch erzählt die Geschichte des Architekten Ethan Mars, dessen Familie aufgrund eines tragischen Unfalls auseinanderbricht. Monate später trifft sie ein weiterer Schicksalsschlag, als eines Tages der Sohn verschwindet. Der Verdacht kommt auf, der seit Jahren Angst und Schrecken verbreitende "Origami Killer" könnte den Jungen entführt haben. Den einzigen Hinweis, den er am Tatort zurücklässt, ist eine Faltfigur in den Händen seiner Opfer. Der Spieler wird in die Rolle des Vaters versetzt, der sein Kind retten möchte und erlebt im Laufe des Geschehens die Ereignisse auch aus Sicht dreier weiterer Charaktere. FBI-Agent Norman Jayden wurde von der örtlichen Polizei zur Lösung des Falles herangezogen, Privatdetektiv Scott Shelby macht sich im Auftrag der hinterbliebenen Familien auf die Spurensuche und Journalistin Madison Paige wittert die ganz große Story.

Die Rahmenhandlung ist fest vorgegeben und die Handlungsstränge überkreuzen einander zwangsläufig früher oder später. Der interaktive Teil besteht allerdings nicht nur darin, dass man die Charaktere steuert, sondern auch in den skriptverändernden Entscheidungen, die man trifft. So wird man im Zuge der Ermittlungen als Polizist etwa vor die Wahl gestellt, einen Verdächtigen zu töten oder als Journalistin in der Klemme einer lebensgefährliche Situation mit Ruhe und Bedacht zu entkommen oder den sprichwörtlichen Sprung aus dem Fenster zu wagen. Gleichzeitig bestraft oder belohnt das Spiel einen nicht für seine Taten. Anstelle dessen erlebt jeder seine eigenen Schlüsselszenen und sein ganz individuelles Finale der unterschiedlichen 23 Enden.

Intuitiv und emotional ergreifend

Um eine Beziehung mit den virtuellen Akteuren herzustellen, haben sich die Autoren einer für Spiele unkonventionellen Herangehensweise bedient. So erlebt man bevor der Thriller richtig in die Gänge kommt, jeden Charakter in alltäglichen Situationen. Im Prolog geht man als Architekt Mars der Morgentoilette nach, holt sich aus dem Kühlschrank etwas zu trinken und zeichnet bis Frau und Kinder vom Einkaufen zurückkommen ein wenig an einem Projekt weiter. Mit den ersten ein bis zwei Stunden riskieren die Entwickler zwar, den ein oder anderen Zuseher zu verlieren, allerdings schaffen sie es mit den gewollt gewöhnlichen Erlebnissen eine Bindung zwischen Spieler und Charakter aufzubauen. Den Figuren wird Menschlichkeit eingehaucht.

Und während man sich per Schütteln des Controllers die Zähne putzt, lernt man ganz nebenbei die intuitive Steuerung kennen. Was im Fachchargon als Quicktime-Event bekannt ist, wurde zu einem leicht verständlichen, kontextbasierten System erweitert. Die einzige unaufgeforderte Bewegung ist das Gehen, alle anderen Aktionen werden passend zu Objekten angezeigt. Nähert man sich etwa einer Tür, taucht vor der Klinke ein Pfeil nach unten auf. Bewegt man den Analog-Stick in diese Richtung, öffnet sie sich. Durch die Überblendung von interaktiven Elementen in der Spielwelt mit den dazugehörigen Steuerungsbefehlen, tritt die Wichtigkeit der Hand-Augen-Koordination in den Hintergrund und auch Nichtspieler können Herr der Lage werden.

Bewegende Entscheidungen

Der große Vorteil an diesem System ist, dass man sich komplett auf die Handlung konzentrieren kann. Die Erlebnisse der vier Hauptcharaktere sind dabei so unterschiedlich, wie ihre Persönlichkeiten. Der nervös wirkende Agent Jayden macht sich bei der Tatortsicherung die neusten Technologien zunutze, scannt Erdreich und Luft mit seiner Augmented-Reality-Brille nach Hinweisen ab oder kombiniert im Holodeck die Spuren, Fundorte, Täter- und Opferprofile miteinander. Der brummige, untersetze Detektiv Shelby gibt sich bei der zögerlich antwortenden Prostituierten einfühlsam und zögert aber auch nicht, einem Rüpel den Hintern zu versohlen. Die gewitzte Paige missbraucht in einer Disco ihre Schönheit, um an Informationen zu gelangen und merkt dabei nicht, wie sie immer tiefer selbst in ihre Story verstrickt wird.

Der Spieler wird aber nicht zum Zuseher. In Dialogen wählt er die Antworten aus und muss sich aktiv an vorangegangene Ereignisse erinnern. So wird Mars am Polizeirevier aufgefordert, seinen Sohn zu beschreiben - welche Farbe hatte nochmals die Jacke? Selbst in diesen eigentlich harmlosen Situationen, bekommt man dadurch zumindest ein wenig den Stress der Akteure zu spüren. Weit schlimmer wird es dann in lebensbedrohlichen Lagen, in denen man in einem Bruchteil von Sekunden zum Einschreiten gezwungen wird. Einen Vorgeschmack darauf gibt zu Beginn des Spiels ein Überfall auf Paige, die sich mit allen Mitteln vor ihren Angreifern schützen muss. Richtig zum Nachdenken geben Mars' Entscheidungen, in denen er beweisen muss, wozu er zur Rettung seines Sohnes wirklich bereit ist. Wie bereits erwähnt, gibt es kein Scheitern im traditionellen Sinn. Jedoch kann jeder der Charaktere sterben und damit aus der Handlung ausscheiden.

Äußerst Glaubhaft...

Später hat man zwar die Chance einzelne Kapitel neu zu starten, um ein anderes Ende zu erleben, doch sollte man gerade beim ersten Durchgang in einem Zug nach dem Bauchgefühl gehen. In diesem Punkt brilliert Heavy Rain, da man an über weite Strecken tatsächlich mitfühlt und einige Handlungen von Gewissensbissen begleitet werden. "Wie weit würden Sie gehen, um jemanden zu retten, den Sie lieben", ist nicht umsonst der von Autor David Cage gewählte Aufhänger und er hat alles daran gesetzt, den Spieler mit diesem Gedanken aktiv zu beschäftigen. Das ist es, was dieses interaktive Erlebnis intensiver macht, als ein Film es je sein könnte. Im ersten Durchgang entscheidet man nicht aktiv, man macht einfach, was man für richtig hält und muss mit den Konsequenzen leben. Essentiell für diese Intensität sind die zwischendurch clever eingestreuten Verschnaufpausen, die immer wieder Menschlichkeit suggerieren. Geradezu kurios selbstverständlich agiert man als Shelby, der während eines Notfalles für eine apathische Mutter einspringt, das schreiende Baby zu wickeln. Als Mars gibt man sich wiederum beim Anflug von Entspannung und Romantik Hilfe suchend der Liebe hin. Selbstverständlich wird es blutig und selbstverständlich wird es erotisch, aber nicht im Übermaß, sondern nur wenn es Sinn ergibt.

...wenngleich nicht perfekt

Zu einem wesentlichen Teil dieser Glaubhaftigkeit trägt die sichtlich fortgeschrittene Technologie bei. Die Akteure sehen aus wie Menschen und die vielfältigen Schauplätze könnten direkt aus Filmen stammen. Inspirationsquellen wie "Seven" haben ihre Spuren hinterlassen. Die Top 10 der rund 90 Schauspieler liefern in der englischen Sprachausgabe (über das Menü wählbar) eine solide Leistung ab. Der ständige Regen und dessen Mehrdeutigkeit sowie die trist harmonisierenden Melodien multiplizieren die in die fein ziselierten Gesichter geschriebene Melancholie. Die verspürte depressive Stimmung spiegelt sich im Gesehenen wieder.

Für absolute Perfektion ist es wohl aber noch die eine oder andere Konsolengeneration zu früh. Die Mimik ist für ein Spiel zwar herausragend, zeitweise steif wirkende Gesten oder fehlende Details im Augenspiel trüben jedoch die Illusion. Vielleicht die irritierendste Schwäche sind die zu sehr nach Studioaufnahmen klingenden Stimmen. Platz für Verbesserungen gibt es also allemal.

Fazit

Der wirkliche Knackpunkt an einem Konzept wie Heavy Rain kann jedoch eigentlich nur die Story sein. Aber David Cage und Quantic Dream haben es tatsächlich geschafft, eine durchgehend anspruchsvolle, aufregende Erzählung mit überzeugenden Charakteren in ebenso intensive Interaktionen zu verstricken. Schlüsselszenen kratzen am Nervenkostüm, manche Entscheidungen regen zum Nachdenken an oder bereut man bis zum Ende. Man wird in beklemmende und vor allem überaus glaubhafte Situationen versetzt. Das ist ganz sicher kein perfektes, aber ein unvergleichlich menschliches Videospiel-Erlebnis, das erwachsene Spieler und Cineasten gleichermaßen begeistern dürfte. Heavy Rain könnte genau jener riskante Anstoß sein, der eine Revolution auslöst oder zumindest das Spektrum der Videospiele um ein ganzes Stück erweitert.