Iain Banks: "Welten"
Broschiert, 558 Seiten, € 15,50, Heyne 2010.
Als eine Explosion, die sich nicht zerstreut, verlangsamt oder Energie verliert, sondern genau im Gegenteil immer weiter und mit wachsender Kraft, Intensität, Komplexität und Reichweite aus sich hervorbricht, verbildlicht Star-Autor Iain Banks die Viele-Welten-Interpretation der Quantenmechanik in seinem jüngsten Roman. "Welten" (im Original unter dem Titel "Transition" 2009 erschienen) gehört nicht zum beliebten "Kultur"-Zyklus des Schotten. Zwar ist es gut möglich, dass sich unter den buchstäblich unzählbaren Parallelwelten, die sich in diesem ins Endlose fortgesetzten Urknall laufend auseinanderfalten, auch solche befinden, in denen die Kultur vertreten ist. Doch hat es einen guten Grund, warum in "Welten" die Menschheit unter sich bleibt, wie spätestens im furiosen Finale des Romans klar wird.
Manche verzagen beim Lesen recht schnell, wenn ihnen die Handlung nicht ausreichend überschaubar vorkommt. Die seien gleich vorneweg ermutigt: "Welten" ist nicht nur durch Banks' diesmal extra-munteren Stil sehr flüssig zu lesen, es zeichnet sich auch bald eine gemeinsame Richtung ab, in die die einzelnen Handlungsfäden laufen werden (auch wenn sie sich noch lange nicht verknüpfen). - Auf den ersten Seiten mag das noch nicht so aussehen: Da folgen in schnellem Wechsel vermeintlich zusammenhanglose Passagen von einem Attentatsversuch in einem Zug bis zu den Bemühungen eines Autors, seine Drehbuch-Idee für einen Alien-Film an den Mann zu bringen. Es erzählen verschiedene Personen jeweils aus der Ich-Perspektive - und einer davon schildert gleich zu Beginn seine Ermordung. Überdies werfen schon die ersten Kapitel die Frage auf, ob es sich bei den einzelnen Erzählern um völlig getrennte Personen handelt, um Versionen einer Meta-Person in verschiedenen Parallelwelten oder auch - der Roman wird nämlich nicht immer chronologisch erzählt - um dieselbe Person in verschiedenen Zeitabschnitten. Aber schließlich surfen wir ja auch mit Banks durchs Multiversum: Zeit, Ort. Notwendig wohl, wenn auch unzureichend unter den Umständen.
Die Nahtstelle der unterschiedlichen Welten liegt auf einer Version der Erde namens Calbefraques. Dort hat man die Möglichkeit entwickelt, mithilfe einer Septus genannten Droge parallele Welten zu bereisen. Das Bewusstsein des Reisenden wechselt in den Körper einer ausreichend ähnlichen Person auf der zu besuchenden Welt; der eigene Körper bleibt indessen auf einem nur noch instinktgesteuerten Niveau auf Calbefraques zurück. Ein ganzes Konglomerat von Institutionen - die Universität für Praktische Talente, das Transitionsamt und vor allem der Konzern - regelt das Weltenwechseln ... für Banks zugleich die Möglichkeit, ein paar satirische Seitenhiebe auf die Verselbstständigungstendenzen bürokratischer Einrichtungen anzubringen.
Und zwei der Ich-Erzähler sind bzw. waren auch im Auftrag dieser Instanzen unterwegs: Erstens der unter vielen Namen auftretende "Weltenwechsler" Temudschin Oh, der die üblichen Ausbildungsschritte seiner Zunft durchlaufen hat und unversehens in den blutigen Richtungskampf zweier rivalisierender Fraktionen gerät. Für welche Seite er sich entscheidet, wird den Hauptstrang der Erzählung abgeben. Und zweitens "Patient 8262", der einst für den Konzern gearbeitet hat. Um sich dessen Zugriff zu entziehen, hat er sich in eine psychiatrische Klinik auf irgendeiner Erd-Version geflüchtet. Seine Situation könnte kaum surrealer sein: Er erinnert sich an seine Vergangenheit als Auftragskiller und findet ein diebisches Vergnügen darin, seiner Umgebung den Geisteskranken vorzuspielen ... muss aber zugleich alle Demütigungen über sich ergehen lassen, die einem Klinikinsassen so widerfahren können. Die Schere zwischen Alles-Durchschauen und Total-Ausgeliefertsein lässt ihn darüber philosophieren, dass er auf ein Solipsismus-Level zurückgeworfen ist wie ein Baby. (Und im Hintergrund reibt sich Banks vergnügt die Hände, weil damit auch die Möglichkeit offensteht, dass all die erinnerten Welten vielleicht reine Einbildung sind.)
Die anderen zwei Ich-Erzähler agieren innerhalb ihrer jeweiligen Welten. Der "Philosoph" ist professioneller Folterer; dass er seine Arbeit im Tonfall eines Fremdenführers vorträgt, wirkt sogar noch gruseliger als der Humor, mit dem Patient 8262 seine Auftragsmorde schildert. Nicht nur Sex, sondern auch Gewalt ist in "Welten" reichlich vertreten - "Menschenfreundlichkeit hat eben immer etwas Fades an sich" - und den zuvor erwähnten munteren Erzählton und die Esprit-geladenen Dialoge nutzt Banks ganz gezielt, um einem zwischendurch immer wieder mal was Meinungsmäßiges reinzuwürgen. Am klarsten wird dies anhand der vierten Hauptfigur, Adrian Cubbish. Aus dem Norden Englands kommend, schlägt er sich in London zunächst als Koks-Dealer durch, baut damit Kontakte zu den besseren Kreisen auf und wird schließlich zum Börsenhai. Hinter jedem seiner Worte und jeder seiner Taten steckt Berechnung - Adrian wird zur Personifizierung des von der Realwirtschaft losgelösten Booms der 80er und 90er und schließlich des beliebtesten Feindbilds unserer Tage, des Hedgefonds-Unwesens. Im Schimpfen über das grundlegende Übel von Aktiengesellschaften wechselt Banks so deutlich wie nie vom Romancier zum Kommentator - bezeichnenderweise kategorisieren die professionellen Weltenwechsler Adrians Welt - aller Wahrscheinlichkeit nach die unsere - als eine der Gierwelten.
Der schleichende Niedergang der Demokratie zieht sich ebenfalls als Leitmotiv durch den Roman. Der Zentralrat des Weltenwechsler-Konzerns ist immer stärker unter die Kontrolle der machtlüsternen Madame d'Ortolan geraten - ihrer großen Gegenspielerin Mrs Mulverhill, die nicht mehr an die philanthropischen Ziele des Konzerns glaubt (sie spricht gallig von Nettigkeitsvollstreckung), bleibt nur der Partisanenkampf aus dem Abseits. - Und der "Philosoph" foltert auf der Suche nach Hintermännern Terroristen, wie wir das nur allzugut kennen - auch wenn es hier Christen sind; die Märtyreraspekte, die deren Religion eingebaut seien, prädestinierten sie bekanntlich zu Attentätern, dreht Banks vergnügt geläufige Stereotype um. Dass der "Philosoph" eine von häuslicher Gewalt geprägte Herkunftsgeschichte hat, die sich in seinem späteren Beruf widerspiegelt, riecht zwar etwas nach Wald-und-Wiesen-Psychologie. Aber dann kommt wieder so ein kleiner Nebensatz, der unwillkürlich für Gänsehaut sorgt: Sie wollten bei der Truppe keine Leute, die etwas wie ich getan hatten, damals zumindest noch nicht ...
Wenn man schon zwischen beliebig vielen Realitäten wechseln kann, dann impliziert das letztlich auch die Suche nach einer besseren Welt. Das machen die Kommentare, die Banks aus dem Munde seiner Figuren äußert, ebenso klar wie eine Passage, in der die 90er Jahre rückblickend als "Goldenes Zeitalter" verklärt werden. Die Menschen in Ruanda und Ex-Jugoslawien mögen da andere Erinnerungen hegen, aber zugegeben: Die Zeiger der Doomsday Clock (klingt nach Science Fiction, gehört aber zu unserer Welt) standen nie davor und nie danach so weit von Zwölf entfernt wie in den frühen 90ern. - "Welten" bzw. "Transition" ist auch über die Grenzen der Genre-Literatur hinaus wahrgenommen worden und hat die Kritiken stark polarisiert. Mir persönlich war es ein großes Vergnügen.