Standard: Eines Ihrer Hauptinteressengebiete betrifft die Debatten um das Thema Multikulturalität. Welchen Einfluss haben diese Diskussionen auf die Entwicklung "westlicher" Gesellschaften?

Fortier: Die Idee der Multikulturalität wurde ursprünglich entwickelt als eine politische Perspektive mit dem Ziel einer kulturellen Gleichberechtigung. Was zurzeit zelebriert wird, ist jedoch eine Politik der Diversität. So aber können die offenen Fragen zu den Themen Ungleichheit, Integration und Zusammenhalt der Gesellschaft nicht angegangen werden. Es findet eine Verschiebung der Schwerpunkte statt. Gemäßigte politische Parteien greifen immer stärker Themen auf, die normalerweise auf der Agenda von rechten Populisten stehen, sie beteiligen sich am Schüren von Ängsten. Sie behaupten, es gebe zu viel Zuwanderung, und dies fördere Ausländerfeindlichkeit, anstatt die historischen Gründe solcher Ablehnung zu hinterfragen.

Standard: Heutzutage weckt das Wort "multikulturell" hauptsächlich negative Gefühle.

Fortier: Der Begriff ist in Ungnade gefallen. In Großbritannien zum Beispiel hat die Regierung dieses Wort seit 2006 bewusst nicht mehr verwendet. Man assoziiert damit eher Trennung als Integration. Multikulturalität wird als Bedrohung empfunden. Viele denken: "Oh je, wir werden vielfältiger. Wir müssen die Immigranten assimilieren, sie müssen Franzosen, Briten, Österreicher werden, bis in ihr tiefstes Inneres." Gleichzeitig findet eine zunehmende Abgrenzung der sogenannten echten Briten etc. gegenüber den anderen statt. Die "weiße" Mittelschicht und vor allem die unteren Einkommensgruppen fühlen sich von der Politik im Stich gelassen, bedroht von Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg. Zuwanderung und Multikulturalität dienen ihnen als Sündenböcke.

Standard: Sie sprechen in diesem Zusammenhang vom "weißen Unwohlsein". Was ist damit gemeint?

Fortier: Viele Menschen glauben, der weiße Europäer werde belagert. Es handelt sich dabei um eine Art Identitätskrise, die aus Unsicherheit hervorgeht. Eine solche Krise kann entstehen, wenn einem plötzlich klarwird, dass Identität niemals etwas Festes ist, sondern sich ständig weiterentwickelt und wandelt. Die "Weißen" werden nach wie vor - vor allem von sich selbst - als der herrschende Teil der Weltbevölkerung betrachtet. Das Unwohlsein kommt von der Unfähigkeit, das Wesen dieser Herrschaft zu erkennen und sie abzulehnen. Das führt zu Identitätskrisen.

Standard: Liegen hierin die Gründe für den wiedererstarkenden Nationalismus in diversen europäischen Ländern?

Fortier: Wir müssen vorsichtig sein, wenn wir denken, der Nationalismus stehe wieder auf. Er war niemals weg, er sammelt sich nur um unterschiedliche Themen. Nationalismus ist Teil unseres Alltags. Rassismus ist eine wesentliche Grundlage des nationalistischen Empfindens. Das äußert sich jetzt in der ablehnenden Haltung gegenüber Migranten, vor allem wenn diese eine andere Hautfarbe haben. Allerdings brachte die Öffnung der Grenzen und die damit verbundene Zuwanderung aus Osteuropa einen zusätzlichen Faktor ins Spiel. Viele Immigranten waren nun nicht mehr dunkelhäutig. Plötzlich stellte sich die Frage: Wie kann man jetzt noch den Unterschied erkennen?

Standard: Sie haben Multikulturalität als "kulturellen Reduktionismus" kritisiert. Warum?

Fortier: So wie der Begriff angewandt wird, reduziert er die Unterschiede zwischen Menschen auf ausschließlich kulturelle Aspekte. Doch eine Person definiert sich nicht nur auf Basis ihrer Kultur, sondern auch durch ihre soziale Klassenzugehörigkeit, ihren Charakter und andere Eigenschaften. Stattdessen reduzieren wir Menschen auf Vorstellungen, die wir von ihrer Kultur haben. Das greift viel zu kurz. Ich kann zum Beispiel Kanadierin sein und Ahornsirup mögen, ihn aber mit dem Tee genießen, den ich in England zu schätzen gelernt habe.

Standard: Erläutern Sie bitte den von Ihnen geprägten Begriff "multikulturelle Intimität"?

Fortier: Das ist keine Norm, kein Ideal. Es geht darum, wie kulturelle Nähe im Rahmen multikultureller Politik behandelt wird. Einerseits wird sie als notwendig betrachtet, aber zu viel gilt als gefährlich. Wie nah sich Kulturen und deren Vertreter kommen können und wollen, ist extrem unterschiedlich.

Standard: Was ist Ihre Vorstellung einer "radikal kritischen Version des multikulturellen Projekts", was wäre zu tun?

Fortier: Man müsste die Weltgeschichte und die Gesellschaft aus einer dekolonialisierenden, antirassistischen, antisexistischen, antihomophoben und nichtklassenorientierten Sichtweise betrachten, eine nichtdiskriminierende Perspektive einnehmen. Man muss die Wurzeln von Rassismus und Ungleichberechtigung zur Sprache bringen, anstatt den Kopf in den Sand zu stecken. Man sollte lernen, mit Unterschieden zu leben. Wir sind eben nicht alle gleich. Es ist Zeit, zu akzeptieren, dass sich Menschen verschieden identifizieren und multiple Verbundenheiten haben. Und wir müssen Unterschiede anerkennen, ohne sie als fixiert, unveränderlich anzusehen. Das ist die Herausforderung.

Standard: Und wenn das nicht gelingt?

Fortier: Dann werden Rassismus und die Angst vor dem Anderen weiter bestehen. Irgendwann könnte es dann wieder verschärft um die Frage gehen, wer dazugehören darf, wem Bürgerrechte oder gar Menschenrechte zustehen und wem nicht.

ANNE-MARIE FORTIER

 

(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23. Juni 2010)