Arcade Fire veröffentlichen in zwei Wochen ein Konzeptalbum zum Thema Vorstädte: "The Suburbs"

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In zwei Wochen erscheint der dritte Longplayer der kanadischen Band Arcade Fire. Ein Konzeptalbum zum Thema "The Suburbs". Karl Fluch traf die Band in Helsinki zum Interview.

Helsinki im Juni, einige Tage nach der Sonnwende. Alle Finnen scheinen verrückt zu sein, trinken wie in einschlägigen Filmen, schauen wild passiv Fußball. Dunkel war der Winter, jetzt ist es um drei Uhr morgens noch hell. Arcade Fire geben in der Altstadt ein Open-Air-Konzert. Tags zuvor lädt die Band zum Interview. Anlass ist das Erscheinen des dritten Albums der kanadischen Band, die seit ihrem spektakulären Debütalbum Funeral (2004) Weltkarriere gemacht hat. Mit Journalistenkollegen aus ganz Europa hört man das Album The Suburbs vorab. Der erste Eindruck ist enttäuschend (siehe Kritik unten). Anschließend geht's zu den Interviews. Da der österreichische Markt so bedeutend ist, wie er ist, bekommen die deutschen Kollegen den Songschreiber und Sänger Win Butler oder seine Frau Régine Chassagne. Der Standard bekommt immerhin die Nummer drei der basisdemokratischen Formation, Richard Parry, den rothaarigen Multiinstrumentalisten, den wilden Verrückten bei den Konzerten von Arcade Fire. Band läuft!

Standard: Nach einmaligem Hören des neuen Albums The Suburbs stellt sich eine etwas ungewöhnliche Einstiegsfrage: Gefällt Ihnen Ihr neues Album?

Richard Parry: Oh?! Ähm - ja, sicher!

Standard: Man vermisst darauf die Leidenschaft Ihrer bisherigen Arbeiten.

Parry: Wir sind eine große Band, das bedeutet immer Kompromisse, aber ich bin glücklich damit, und man kann nicht immer dasselbe Album machen.

Standard: The Smiths haben das gemacht, mit großer Leidenschaft ...

Parry: ... stimmt, die Smiths, die konnten das. Aber wir sind nicht The Smiths. Ich denke, es ist eine Entwicklungssache. Wenn man wächst, kann man gewisse Dinge irgendwann nicht mehr hören. Oder es fehlt die Begeisterung dafür, weil man es zur Genüge kennt. Für Arcade Fire bedeutet das, dass wir aufgrund unseres schnellen Erfolgs bei einem schmalen Werk dieselben Songs viele hunderte Male vorgetragen haben. Das sättigt und hat uns zu einem gewissen Grad sicher unbewusst beeinflusst, um für The Suburbs ein paar neue Dinge auszuprobieren.

Standard: Welche?

Parry: Es gibt mehr Rock 'n' Roll, gleichzeitig mehr Understatement. Das Album ist, wenn man so sagen will, intelligenter. Wir wollten den Stücken mehr Raum geben. Bisher spielte bei uns ja meist jeder alles zugleich und auf vollen Touren. Immer im fünften Gang!

Standard: Was hat diese Veränderung inspiriert?

Parry: Das White Album der Beatles. Wir wollten ein Doppelalbum machen, aber das ging sich nicht ganz aus und hätte wohl ein weiteres Jahr gedauert! Vom White Album haben wir, dass sich die Songs überlappen, in einander übergehen. Das soll Gesamtheit signalisieren. Für mich persönlich bedeutete die Arbeit ein tieferes Eintauchen in den Rock 'n' Roll. Meine Eltern interessierten sich nicht für diese Musik. Nun habe ich Chuck Berry entdeckt! The Band! Das war neu und aufregend für mich.

Standard:  The Suburbs ist ein Konzeptalbum: Vorstädte, das Ende der Kindheit ... - viele schlechte Bücher und Songs handeln davon, auch einige gute. Warum wählten Sie dieses Thema?

Parry: Es gibt viele Referenzen. Das Album versammelt Ideen, Themen und Gefühle, die mit dieser vom Menschen geborenen Idee von einem besseren Leben zusammenhängen. Dazu kreierte der Mensch die Suburbs! Eine Hölle! Eine Landschaft des Schreckens! Wir haben aber versucht, Suburbs als etwas zu thematisieren, das über die physische Präsenz hinausgeht. Eine Reise in die Natur des Menschen, die modernen Zeiten, die Paradoxe unseres Lebens.

Standard: Das Überwinden der Vorstadtwelt war im 1980er-Underground oft Thema und hat sich sehr heftig entladen. Stichwort: Hardcore.

Parry: Stimmt, das kann man auch nachvollziehen, aber wir tragen den Zorn nicht auf unserem Hemd. Wir reagieren weniger reaktionär und impulsiv. Uns geht es nicht zuerst um "Smash the suburbs", auch wenn wir das durchaus wollen. Wir artikulieren uns anders - ohne jetzt andere Bands schlechtmachen zu wollen! Aber wir verwenden eine poetischere Sprache, versuchen, moderne Themen greifbar zu machen.

Standard: Sind Arcade Fire Suburb-Kids?

Parry: Jeder in der Band ist in Vorstädten aufgewachsen, kennt den Alltag dort. Wenn du dort aufwächst und kein Auto hast, bist du aufgeschmissen. Du kommst nicht weg, bist ein Außenseiter, weil jeder dort ein Auto hat. Das ist Gesetz! Und du bist immer weit weg von allen spannenden Dingen. Alles erscheint gesichtslos. Vorstädte stehen für einen Traum, der gescheitert ist. Und trotzdem wachsen sie munter weiter. Noch größer, noch "besser", ohne zu bemerken, dass aus Schlechtem nichts Gutes entstehen kann. Es ist verrückt! Ein Albtraum! Ich würde sie bombardieren, wenn ich könnte. Sie zerstören funktionierende soziale Gefüge. Diese Gefühle wollen wir transportieren, der Hässlichkeit einen emotionalen Spiegel vorhalten.

Standard: Da schwingt am Album vor allem Trauer mit.

Parry: Durchaus.

Standard: Ein Merkmal von Arcade Fire ist, traurige Themen in euphorische Songs zu verpacken.

Parry: Das kann man nach Funeral wohl sagen, aber es ist nicht geplant.

Standard: Trotzdem fehlen diese euphorischen Songs hier.

Parry: Wir wollen interessante Musik machen ...

Standard: ... das sagen immer alle ...

Parry: ... ja, stimmt natürlich, aber man muss seiner Überzeugung nachgehen und hoffen, dass die Ergebnisse einem nicht nur selbst gefallen, sondern auch anderen. Wir dachten nicht einmal, dass die Songs, die zu Funeral wurden, ein taugliches Album ergeben würden: Wir dachten, mein Gott, das funktioniert alles überhaupt nicht! Aber Merge Records wollte es unbedingt so veröffentlichen.

Standard: Sie hatten nicht das Gefühl, etwas Außergewöhnliches zu schaffen?

Parry: Mhm - wir hatten kein besonderes Vertrauen in uns selbst. Wir wussten nicht, ob das außer uns noch jemand so hören und empfinden würde. Unser Ziel ist es, etwas Wahrhaftiges zu schaffen, etwas, an das die Band selbst glaubt.

Standard: Für The Suburbs versuchen Sie das gleich in achtfacher Ausführung hinzubekommen. Das Album erscheint mit acht verschiedenen Cover-Artworks.

Parry: Diese Vervielfachung soll das Thema illustrieren. Es zeigt immer dieselbe Aufnahme vor verschiedenem Hintergrund. Es ist kein Marketing-Gag, und es gibt keinen Grund, sich das Album acht Mal zu kaufen. Aber es schafft so eine Lebendigkeit, weil in allen Läden vielleicht andere Ausgaben stehen, in Reviews verschiedene Versionen abgebildet sind und so weiter.

Standard: Was bedeutet Erfolg für Arcade Fire? Sie sind ja keine Band, die in goldene Uhren und dicke Autos investiert.

Parry: Die Idee von Erfolg verändert sich. Für diese Band ist es ein Erfolg, tun zu können, was wir machen. Wir versuchen wirklich etwas zu verändern. Mit lebendiger, interessanter Musik, hinter der wir stehen können. Trotz aller anfänglich erwähnten Kompromisse. Aber auch ein Kompromiss kann ein Erfolg sein. Damit glücklich zu sein und das als Job zu betreiben, von dem man leben kann, ist ein Erfolg. Damit will ich nicht sagen, dass jeder in einer Rockband sein soll. Wir sind nicht in einer Band, weil wir dachten, das wäre ein cooler Job. Wir machen es, weil wir den drängenden Wunsch danach verspüren, diese Musik zu machen. Das erstreckt sich auch auf andere Lebensentwürfe. Auch ein Architekt steht vor der Entscheidung, ob er großartige Häuser oder beschissene Vorstädte bauen will.

(DER STANDARD, Printausgabe, 16.7.2010)