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Kaltes Wasser wirkt nicht nur am Fuß, das korrespondierende Organ ist der Nasen-Rachen-Raum. Kneippen fördert die Abwehrkraft.

Foto: ApA/Thomas Kienzle

Der Wanderer, der seine müden Füße im kalten Gebirgsbach erfrischt. Die sorgende Großmutter, die dem fiebernden Enkel Essigpatscherl anlegt. Der Maturant, der seine Ohrläppchen mit kaltem Leitungswasser kühlt, um seine Konzentration zu sammeln. Sie alle kneippen.

Spricht der Volksmund vom Kneippen, wird meist ans "Wassertreten" oder an "Wechselbäder" gedacht. Kur-Teilnehmer werden vorgestellt, die im Storchenschritt in eiskalten Becken herumwaten oder abwechselnd die Füße im kalten und warmen Wasserbad baumeln lassen. Tatsächlich sind die Wasseranwendungen in der Lehre des Sebastian Kneipp sehr wichtig - doch sie sind nur ein Teil eines größeren Ganzen. Der deutsche Pfarrer aus dem 19. Jahrhundert brachte eine umfassende Lebensphilosophie zu Papier (siehe Wissen am Artikelende).

Der Kampf zweier Riesen

"In dem ungeheuren Luftkörper, der unsere Erde umgibt, hausen zwei gewaltige Riesen, der eine noch mächtiger als der andere", schreibt Kneipp in seinem Werk So sollt ihr leben. Vor beiden Riesen, Kälte und Wärme, sei der menschliche Körper zu schützen, beide könne er aber auch zu seinen Gunsten verwenden. Nicht nur kaltes, sondern auch warmes Wasser kommt bei Kneipp zur Anwendung. Je nach Bedarf in Form von Wickeln, Bädern, Güssen, Dampfanwendungen oder Spülungen. Richtig eingesetzt, wirken sie schmerzlindernd, kreislaufanregend und stärken das Immunsystem.

"Das kalte Wasser war damals das Neue und Herzeigbare", erklärt Gebhard Breuss, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Kneippmedizin. In Ansätzen hätte es die Kneipp'schen Methoden ja schon immer gegeben. Er habe sie systematisch zusammengeführt, in einer Zeit, in der Schulmedizin und Wissenschaftlichkeit groß im Kommen waren und Naturheilkunde zurückgedrängt wurde. Kneipp wollte die Gleichrangigkeit der beiden Systeme. Die Kneipp'schen Wasseranwendungen zählt man nicht zur Alternativmedizin (siehe Interview), denn ihre Wirkung sind klar messbar. "In 24-Stunden-EKGs können wir die allgemeine Erholung und die größere Belastbarkeit des Körpers dokumentieren", sagt Breuss, sowohl nach einer Kur als auch nach Einzelanwendungen.

Besonders hilfreich sei das Kneippen bei Kreislauf- und Gewichtsproblemen, Infektanfälligkeit und Bewegungsapparatproblemen. Letztere seien die Priorität für die Krankenkassen, eine Kur würde am ehesten für diesen Zweck bewilligt. Doch auch die Alltagsanwendung sei sehr sinnvoll. Das Konzept ist einfach und praktisch, die meisten haben die positive Wirkung von kaltem oder warmem Wasser irgendwann schon einmal kennengelernt. Gegen Kopf-, Hals- und Gelenkschmerzen, Fieber und Erkältungen, Schlafprobleme oder etwa kalte Füße zeigt Kneippen eine gute Wirkung. Durchblutung kann gefördert, kleine Blutungen können gestoppt werden. Der Stoffwechsel kann angeregt oder der Körper entspannt werden.

Ganz so einfach ist es aber nicht. Auch diese alltagsnahe und simple Methode funktioniert nach genauen Regeln. So sollte man niemals kalte Anwendungen am kalten Körper machen. Und auch ein Zuviel an Wasseranwendungen gibt es.

Pfarrer Kneipp selbst kam - so erzählt die Legende - durch die eigene Not zur Tugend. An Tuberkulose leidend, badete er im Winter in der eiskalten Donau und befreite sich so von der tödlichen Krankheit. Beeindruckt von diesem Erfolg verfeinerte er die radikalen Theorien der damaligen Wasserdoktoren. "Er lernte die Methode auf Situation und Person anzupassen", erklärt Breuss.

Kneippen ist erlernbar. Die Akademie des Kneippbundes bietet Aus- und Weiterbildung an. Die Gesellschaft für Kneippmedizin bildet "Kneipp-Ärzte" aus. 130 seien es derzeit österreichweit. "Sie bauen Kneipp in ihre Gedankenwelt ein", sagt Breuss, denn in erster Linie gehe es um "eine philosophische Grundhaltung". Statt Kneippen verwendet er daher gerne den Begriff der "TEM - Traditionelle Europäische Medizin".

Lebensstilmedizin

Der Allgemeinmediziner und Kurarzt schätzt diese Einstellung, "dass man Herausforderung und nicht nur die Bequemlichkeit braucht und dass eine gesundheitsfördernde Ebene auf physischer und sozialer Ebene und in allen Aspekten des Lebens miteinbezogen wird". Kneippen sei klassische Lebensstilmedizin.

Der Lebensstil des Sebastian Kneipp ist auch roter Faden dreier neuer Kneipp-Destinationen in den Alpen. Die "Kneipp-für-mich-Erlebnisdörfer" in Scheffau (Tirol), Niederdorf (Südtirol) und Großglockner-Zellersee, wollen natürliche Anlagen wie Lehmgruben, Quellen, Wasserfälle und Reisig-Düfte für die Kur nutzen. (Julia Grillmayr, DER STANDARD, Printausgabe, 9.8.2010)