Eric Hobsbawm: "Die 'Theologie des freien Marktes' grassiert seit den letzten 25 Jahren in fast allen Regierungen"

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STANDARD: Herr Professor, Sie haben im Zusammenhang mit der von der UNO gedeckten US-Intervention in Afghanistan gesagt, dass Sie sich an die Zeit nach 1918 erinnert fühlen, als neue Kolonien als Völkerbundmandate getarnt wurden. Wie beurteilen Sie den Irakkrieg – ist das für Sie ungetarnter Kolonialismus?

Hobsbawm: Ungetarnt ist es ganz sicher. Ich glaube aber nicht, dass es mit dem Kolonialismus zu vergleichen ist. Das große amerikanische Imperium – Lateinamerika – bestand schon immer aus Satellitenstaaten. Der Hausstil des amerikanischen Imperialismus ist eher so, wie es jener der UdSSR war: abhängige Staaten, die tun was man will und wo man, wenn sie es nicht tun, interveniert. Ich glaube nicht, dass es den Amerikanern angenehm wäre, wenn sie als Kolonialherren in der ganzen Welt herumsitzen müssten. Sie haben bis jetzt versucht, sich herauszuwursteln. Im Irak und in zukünftig besetzten Gebieten wird das schwerer sein. Die werden die Amerikaner entweder selbst besetzen oder jemanden finden müssen, der es für sie tut.

STANDARD: Ist das ein Geschäft oder etwas, das Geld kostet?

Hobsbawm: Unter englischen Historikern besteht seit langer Zeit eine große Diskussion darüber, inwieweit sich das Empire finanziell gelohnt hat. Im Großen und Ganzen hat es sich für den Staat finanziell nicht gelohnt, wohl aber für die Unternehmer und Unternehmungen des Staates. Es kostet viel, heute vielleicht noch mehr als früher. In der Vergangenheit hat das englische Empire versucht, die Sache so zu lösen, dass die Kolonien für ihre Besetzung gezahlt haben. Und das versuchen die Amerikaner im Irak auch.

STANDARD: Da denkt jeder natürlich sofort an Öl.

Hobsbawm: Ob das gelingt? Denn eigentlich kommt an Öl im Augenblick nicht soviel heraus, da muss erst einmal viel investiert werden, bevor die earning capacity des irakischen Öls wirklich groß wird.

STANDARD: Was bedeutet diese Entwicklung für die Weltlage? Müssen wir uns vom System der UNO verabschieden, ist die Nato irrelevant geworden?

Hobsbawm: Die Nato ist schon lange irrelevant und das ist kein großer Verlust. Ob die Vereinten Nationen irrelevant geworden sind, ist noch nicht klar. Ihr Problem ist, dass sie bis jetzt nur handlungsfähig waren, wenn der Sicherheitsrat – das heißt, die Amerikaner – zugestimmt haben. Das ist im Augenblick aus, aber das bedeutet nicht unbedingt, dass die Vereinten Nationen von der Bildfläche verschwinden. Es gibt zu viele Funktionen, die ohne eine solche Organisation schwer aufrecht zu erhalten sind.

STANDARD: In den Feuilletons großer Zeitungen wird das US-Konzept des "Präventivkriegs" ohne Deckung der UNO als Tabubruch und Rückfall ins Faustrecht beklagt. Ist das so, oder gab es das nicht auch schon früher, im "Hinterhof" Lateinamerika?

Hobsbawm: Das hat es regional gegeben, in bestimmten Grenzen. Man muss sich daran erinnern, dass die Leute das nie gern ganz öffentlich gemacht haben. Das war sozusagen "halboffiziell", z.B. die Contras (in Nicaragua). Die neue Doktrin ist ein ganz bewusster Tabubruch, ein Bruch mit der Idee der internationalen Ordnung. Es sollte nicht mit der zynischen "Realpolitik" im alten Sinn des 19. Jahrhunderts verwechselt werden. Rumsfeld ist auch mit Kissinger nicht zu verwechseln. Da ja das 20. Jahrhundert barbarischer als das 19. war, hat die Realpolitik Kissingers sich barbarischer benommen als Bismarck. Tatsache war aber, dass für Kissinger die Regeln einer internationalen Ordnung galten, er wusste, man hat nationale Interessen, denen muss man intelligent nachgehen. Heute ist das eine Fantasie der Weltherrschaft und hat sehr wenig auch mit der zynischsten Großmacht- Realpolitik zu tun. Daher ist es gefährlich.

STANDARD: Geht es auch über den imperialen Gedanken Englands hinaus, weil es sich nicht nur um das eigene Kolonialreich, sondern um die ganze Welt dreht?

Hobsbawm: Ja, die Vereinigten Staaten sind, wie die Franzosen nach der französischen Revolution unter Napoleon, wie die Russen nach der russischen Revolution, eine revolutionäre Großmacht und daher eine, die die Weltveränderung will. Das gefährliche daran ist, dass die Amerikaner glauben, sie hätten genug Macht dazu. Andererseits besteht das Paradox, dass man, wie in den vergangenen Weltimperien, theoretisch die Welt im Sinne einer großen Revolution, einer großen Befreiung, ändern will, in der Praxis läuft es aber – wie bei Napoleon – auf den Vorteil des großen Imperiums hinaus.

STANDARD: Kann so etwas Bestand haben?

Hobsbawm: Die Schwierigkeit solch einer Weltherrschaft besteht darin, dass es sich um ein absolutes Novum handelt. Eine wirkliche globale Herrschaft ist noch nie da gewesen, bei keinem Imperium. Und daher weiß man nicht, was da möglich ist, unter den heutigen technischen Bedingungen. Man weiß aber, dass die Welt ungeheuer kompliziert ist und bleibt. Man weiß auch, dass der riesige Vorteil der Amerikaner heute rein militärisch ist. Sie sind natürlich auch sehr reich, aber dieser Reichtum ist brüchiger. Stellen Sie sich z.B. vor, da wir in Wien sind, dass morgen die Opec sich entscheidet, ihre Rechnungen in Euro und nicht in Dollar zu fakturieren. Da heute der Euro stärker ist als der Dollar, hätte das ungeheure Auswirkungen. Die amerikanische Wirtschaft ist eine von zwei oder drei großen Wirtschaftsgebieten. Die amerikanische Militärmacht wird auf absehbare Zukunft unerreichbar bleiben. Aber reine Militärmacht hat nie genügt. Denken sie an die Mongolen, an Dschingis Khan. Die haben die ganze Welt erobert und zwar sehr geschwind, aber aus dem Großteil der Welt sind sie sehr bald verschwunden. Der einzige Teil der Welt, wo sie – mit Ausnahme von einigen Gebieten Russlands – geblieben sind, war China, wo sie sich der Welt, wie sie damals war, angepasst hatten. Die Tatsache, das man jeden besiegen kann, genügt nicht zur Weltherrschaft. Und ganz besonders deshalb nicht, weil, wie ich in meiner "Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts" gesagt habe, die Menschen in der Vergangenheit die Logik der Macht anerkannt haben. Das ist heute nicht mehr der Fall.

STANDARD: Ist da der Terror auch ein neues Element?

Hobsbawm: An sich nicht, aber denken Sie an die Palästinenser und and Israel. Obwohl die Macht Israels ungeheuer groß ist, wird sie nicht angenommen. Und daher ist das, was in den ersten 20 Jahren für die Israelis ein Kinderspiel war – Palästina ruhig zu halten – heute nicht mehr möglich. Dieses Problem haben Weltherrscher wie auch Regionalherrscher. Es ist nicht unlösbar, aber es erfordert anderes als bloß die Rhetorik von der "Rückkehr zur Demokratie". Eine der Schwierigkeiten der Weltherrschaft ist es, dass die Amerikaner nicht wissen, was sie damit wollen. Die gesamten Slogans wie die "Achse des Bösen" oder die "Roadmap" für den Nahen Osten, wurden nicht als politische Analysen gemacht, sie wurden als reine Reklameanalysen erstellt, sie wurden von den Publicityleuten erfunden. Ein Großteil der amerikanischen Politik – außer das rein strategisch-militärische – ist irgendwie hinter einer Wolke von Orwellschen Newspeak, die auch die Amerikaner selbst nicht klar sehen lassen.

STANDARD: Wo bleiben da die Europäer? Wirtschaftlich sind sie ja durchaus gleichrangig mit den USA.

Hobsbawm: Die Europäer sind wirtschaftlich mehr oder weniger gleichwertig, politisch nicht besonders, militärisch existieren sie nicht. Die Schwierigkeit besteht darin, dass eines der ersten praktischen Resultate der amerikanischen Hegemonie darin bestanden hat, Europa zu sprengen. Ich halte es für den gefährlichsten der vielen gefährlichen Aspekte der US-Politik, dass die Sprengung Europas dessen zwei großen Errungenschaften aufs Spiel setzt. Nämlich die erste, dass seit 1945 mit Ausnahme der Balkanhalbinsel aus einem Kontinent der Kriege ein Kontinent des Friedens geworden ist. Und zweitens, dass dieser Kontinent das große Heim des Wohlfahrtsstaates, sozusagen des "gezähmten Kapitalismus" geworden ist. Und das wird jetzt aufs Spiel gesetzt.

STANDARD: Wird sich Großbritannien zu einem US-Satelliten entwickeln?

Hobsbawm: England versuchte in den letzten 20 Jahren irgendwie zwischen Amerika und Europa herum zu manövrieren, jedenfalls den Anschluss an Europa nicht zu verlieren. Unter den gegebenen Umständen wird das immer schwerer. In der Logik der Lage ist es, dass England mehr zu Satellitenstaat Amerikas wird. Nicht unbedingt aus wirtschaftlichen Gründen, zum Teil ist das der strategische Druck der Amerikanern. Es stimmt aber auch, dass England immer auch kulturell und wirtschaftlich auf halbem Weg zwischen den beiden Seiten des Atlantiks stand.

STANDARD: Was sagen sie zum Vorwurf des "alten Europa"?

Hobsbawm: Das sind wieder so Spiele mit der Sprache. Man kann doch die moderne Politik nicht als eine Art Macho-Vorführung betrachten. Das schaut sich in Amerika, im Fernsehen, gut an. Alle diese Sachen sind reiner Blödsinn. Erstens einmal ist Europa gleich alt, oder gleich jung. Die meisten Länder Europas sind in den letzten 50 Jahren gänzlich erneuert worden. Die Behauptung, dass die Europäer nicht genug Courage hätten, das ist doch nicht ernst zu nehmen.

STANDARD: Zur Frage des Wohlfahrtsstaates: In Österreich gibt es erstmals seit Jahren Streiks wegen einer Pensionsreform. Woher kommt der Reformdruck? Ist das ein Resultat der Globalisierung?

Hobsbawm: Es ist ein doppelter Druck. Erstens einmal durch die Globalisierung, d.h. die Auswanderung der Industrie in die Dritte Welt, besonders nach Asien. Zweitens aber ist es die "Theologie des freien Marktes", die in den letzten 25 Jahren in fast allen Regierungen grassiert. Europa ist heute bei weitem die reichste Region der Welt, in der das Produkt verhältnismäßig noch am wenigsten ungleich verteilt ist. Es besteht meiner Ansicht nach kein Grund, warum wir nicht weiter einen Wohlfahrtsstaat haben können. Es ist schon möglich, dass in manchen Ländern wie z.B. in Deutschland oder Österreich der Wohlfahrtsstaat etwas zu freigiebig war. In England wäre es unglaublich, dass die Leute Pensionen bis zu 80 Prozent bekommen. Wie ich in Pension gegangen bin, habe ich 50 Prozent meines Gehalts bekommen. Darüber lässt sich sicher diskutieren. Aber Tatsache ist, dass es möglich ist. Es ist nur dann nicht möglich, wenn man glaubt, dass der Staat bzw. die Öffentlichkeit keine Verantwortlichkeit für die Verteilung des Sozialproduktes hat, dass man sagt, für den Profit wird zuviel an Sozialabgaben gezahlt. Wie das gemacht werden soll ist eine andere Sache. Man muss zuerst feststellen, wie viel man sich leisten kann, nicht wie recht oder unrecht die Sozialabgaben den Unternehmen sind.

STANDARD: Es gibt dann immer die Drohung von Unternehmen mit der Abwanderung in Billiglohnländer...

Hobsbawm: Das werden sie aber sowieso tun.

STANDARD: Beherrscht die von Ihnen so genannte "Theologie des freien Marktes" nicht schon lange auch die Universitäten und Forschungsinstitutionen? Wird überhaupt ausreichend an Gegenmodellen gearbeitet?

Hobsbawm: Doch, seit dem Ende der Neunzigerjahre fangt man wieder an, z.B. ging der Nobelpreis an Amartya Sen, und im Jahr später an Joseph Stiglitz. Zwanzig Jahre lang bekamen nur Leute aus Chicago die Nobelpreise. Das war ein solcher Skandal, dass die Wissenschafter in den Nobelgremien protestiert haben, es soll ein wissenschaftlicher und nicht ein ideologischer Preis sei. Diese Freien-Markt-Leute machten auch bankrott, denken Sie an den Fonds Long Term Capital Management (in den die Nobelpreisträger Robert Merton and Myron Scholes involviert waren – Anm. d. Red.) Die Krise seit 1997/98 – eine der großen Krisen der Weltwirtschaft – hat die Theologie des freien Marktes doch ein bisschen geschwächt.

STANDARD: Auf der Ebene der politischen Parteien sieht man kaum jemanden, der ein Gegenmodell propagiert. Was halten sie von den neuen sozialen Bewegungen, den Globalisierungskritikern?

Hobsbawm: Die haben einen Vorteil, nämlich dass sie die erste politische Bewegung sind, die transnational organisiert ist. Die riesigen Schwierigkeit, u.a. auch der alten Parteien und der alten Gewerkschaften war es, dass sie alle innerhalb des nationalen Rahmens funktionierten, trotz der ganzen Rhetorik über Internationalismus. Die NGOs sind von Anfang an transnationale Politik gewöhnt. Der Nachteil der Antiglobalisierer ist es, dass sie kein positives Programm haben und dass sie auch – nicht alle – die Globalisierung als solche bekämpfen, was einfach nicht geht. Die Globalisierung der Wirtschaft, der Kultur, fast aller Aspekte mit Ausnahme der Politik ist eine Tendenz, die schon seit dem 16. Jahrhundert besteht und einfach nicht rückgängig gemacht werden kann. Der Irrtum ist, dass man sie mit einem besonderen Stil, nämlich der Globalisierung durch den freien Markt identifiziert. Und obwohl diese Bewegungen ziemlich wirksam sind, sind es keine Massenbewegungen. Wenn ich sie mit der Bewegung gegen den Irakkrieg vergleiche – sowohl in England wie in Spanien und Italien – die großen Demonstrationen, die es da gab – die gingen weit über alles hinaus, was früher politisch zu mobilisieren war. Die Hälfte der Leute waren solche, die noch nie auf die Straße gegangen sind. Da besteht ein gewissen Novum, dass im Protest gegen diesen Krieg, gegen diese neuen Hegemonie, Leute in riesiger Zahl mobilisiert werden. Wie wirksam das ist, das ist eine andere Frage.

STANDARD: Am Schluss ihrer Autobiografie rufen Sie dazu auf, soziales Unrecht weiterhin zu benennen uns zu bekämpfen. Wie schätzen Sie da die Bewegung der Globalisierungskritiker ein? Könnte sie stark genug werden, um die Realität der Welt zu verändern?

Hobsbawm: Das Problem ist, dass es das Publikum heute nicht mehr so einfach gibt. Was sich heute viel leichter mobilisieren lässt, sind die professionals, Leute der middle class, auch bei den Jugendlichen. Was früher von der Arbeiterbewegung mobilisiert wurde, ist heute nicht mehr so leicht anzusprechen. Sehr viel davon ist abgebröckelt, an die Rechte. Aber: die Welt wird nicht von allein besser.

STANDARD: Sie haben in Wien einen Festvortrag für das "Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands" (DÖW) gehalten. Bei allen Leistungen dieser Institution – kann der Versuch der Vergangenheitsbewältigung und des Kampfes gegen Rechtsradikalismus überhaupt erfolgreich sein? Ist es in den vergangene Jahren nicht Populisten und radikalen Nationalisten in vielen Ländern gelungen, die alten Ideen durch einige Retuschen und geänderte Verpackung als "neu" und massenwirksam darzustellen?

Hobsbawm: Das macht die Existenz einer Organisation wie des Dokumentationsarchivs weiter notwendig. Eben weil wir im Augenblick in einer Epoche stehen, in der die Leute ihre historischen Mythen wieder auffrischen, beziehungsweise ihre eigene Geschichte revidieren. Das Problem besteht nicht darin, dass es die Gaskammer-Leugner gibt, die überzeugen niemanden. Gefährlicher sind die Leute, die auf einer viel seriöseren Grundlage eine "Ehrenrettung" der faschistischen Epoche versuchen. Der große Wert des DÖW ist es, festzustellen, das unsere europäische Demokratie, das Nachkriegseuropa, auf der Absage an Hitler begründet ist. Das ist die Basis. Das ist sehr klar in Ländern wie Italien und Frankreich. Es ist aber überall so. Dort, wo ein aktiver Widerstand gegen Hitler während des Kriegs da war, dort bestanden die Möglichkeiten der Erneuerung. Das hat in gewisser Hinsicht auch das DÖW verstanden, dass nur aufgrund einer österreichischen Absage an die Tradition des Nationalismus, in österreichischen Termini des Großdeutschtums, die zweite Republik aufzubauen war. Die erste Republik hat es nie zu etwas gebracht, weil sie eben nicht die Möglichkeit zu dieser Absage hatte. (gek. Version in DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 7.5.2003)