"Die Kreativität und die Intensität des Lebens sind in der manischen Phase vielleicht verstärkt, aber ob aus der Kreativität heraus etwas Produktives entstehen kann, bliebt dahingestellt." (Christan Simhandl)

Foto: Ch. Simhandl

Bild nicht mehr verfügbar.

"Es gibt Menschen, für die Kreativität im Rahmen der 'leichteren' Form der Manie - der Hypomanie - etwas Wunderbares ist." (Simhandl)

Foto: EPA/MOHAMED OMAR

1958 hielt die große US-amerikanische Schriftstellerin Sylvia Plath fest, ihr Leben werde "auf magische Weise von zwei elektrischen Strömen geführt, freudig-positiv der eine, verzweifelnd negativ der andere - und derjenige, der gerade die Oberhand hat, dominiert mein Leben völlig".

Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt... An einer Bipolaren Störung - ein Begriff, der die Diagnose "manisch-depressiv" ablöst - sollen etliche prominente Kreative leiden. 1993 machte die selbst Bipolar erkrankte klinische Psychologin Kay Redfield Jamison in ihrem bis heute nicht ins Deutsche übersetzte Buch "Touched with Fire. Manic-Depressive Illness and the Artistic Temperament" einen essenziellen Zusammenhang zwischen künstlerischem Schaffen und Bipolarer Störung aus. Systematisch untersuchte sie Biografien von Dichtern, Komponisten und Malern aller Epochen.

Christian Simhandl, Leiter des Bipolar Zentrums Wiener Neustadt, ist täglich mit der Gratwanderung zwischen Genialität und Krankheit konfrontiert.

derStandard.at: Lord Byron, Virginia Woolf, Sylvia Plath, Herman Melville, Robert Schumann, Vincent van Gogh, Hector Berlioz, August Strindberg, Ernest Hemingway, Mozart, Novalis, Lichtenberg, Goya, Conrad F. Meyer, Martin Kippenberger, Ernst Jandl... Sie alle und noch viele weitere Künstler gelten heute als manisch-depressiv...

Christian Simhandl: Da gibt's im Internet eine Menge von Listen. Bill Gates, Steven Jobs oder Vivienne Westwood sind bipolar. Viele Selbsthilfegruppen haben auch Goethe auf ihrer Liste. Sie meinen, niemand, der so zwanghaft seinen Beruf ausübt wie er es getan hat, verlässt seinen Arbeitsplatz und reist spontan in der Nacht nach Italien.

derStandard.at: Besteht da nicht die Tendenz, dass man allen kreativen Menschen eine bipolare Störung zuschreibt?

Simhandl: Nein, denn das kann man im Einzelfall sehr genau diagnostizieren. Es geht um eine Veränderung gegenüber der üblichen Stimmungslage ins Manische oder Depressive. Jules Angst hat das Krankheitsbild der Bipolaren Störung über viele Jahrzehnte und in den unterschiedlichsten Ausprägungsformen untersucht. (Anm.: Der Züricher Psychiater differenzierte 1966 mit Carlo Perris zwischen bipolaren Erkrankungen und unipolaren Depressionen.) 25 Prozent der Bevölkerung haben zwar Hochs und Tiefs, das heißt aber noch lange nicht, dass sie in Behandlung gehen müssen. Zehn Prozent leiden dagegen an Depressionen und Hypomanie oder Manie, leben mit einem enormen Leidensdruck und unternehmen Suizidversuche.

derStandard.at: Wo liegen die Grenzen zwischen Schaffensdrang und pathologischem Verhalten? Ab wann spricht man von einer Bipolaren Störung?

Simhandl: Sobald der Betroffene selbst unter Leidensdruck steht, beziehungsweise seine Familie, sein soziales Umfeld unter Leidensdruck gerät. Manie ist nicht immer angenehm für den Betroffenen. Sie kann auch beängstigend sein, vor allem, wenn die Gedanken zu schnell werden und die Filter, was für Eindrücke in den Kopf kommen, nicht mehr funktionieren: Was ist wichtig, was ist unwichtig? Irgendwann hält das der Betroffene selbst, jemand in der Familie oder am Arbeitsplatz nicht mehr aus.

derStandard.at: Kann man sagen, dass alle großen Werke im Rahmen einer Manie entstehen?

Simhandl: Nicht alle Werke entstehen im Rahmen einer Manie und falls doch, dann ist das nichts Schlechtes, da es nicht zwangsläufig mit Leidensdruck verbunden ist. Es gibt Menschen, für die Kreativität im Rahmen der 'leichteren' Form der Manie - der Hypomanie - etwas Wunderbares ist. Sie können das gut in ihr Leben einbetten, zum Wohle der Menschheit und zu ihrem eigenen Wohl. Wie wir aus vielen Biografien erfahren, leiden diese Menschen auch, wenn sie die Ideen oder Gefühle nicht entsprechend umsetzen können. Es kommt aber auf jedes einzelne Beispiel an.

Im Hinblick auf Kreativität muss man sich auch die depressiven Episoden anschauen. Als Beispiel nenne ich die Gedichte, die Maxi Böhm in der Tiefe der Depression verfasst hat... Viele Kreative schöpfen ihre Schaffenskraft aus der Manie oder der Tiefe der Depression. Aber wenn es zu hart wird, oder sie mit einem Lebensüberdruss konfrontiert sind, empfehle ich eine Behandlung. Lebensüberdruss ist ein menschliches Thema, aber es ist nicht notwendig, dass man darunter leidet.

derStandard.at: Ist Lebensüberdruss charakeristisch für eine Bipolare Erkrankung?

Simhandl: Wenn Vivian Westwood manisch ist, ihre witzigen hohen Schuhe und ihr knalliges Outfit trägt, lieben sie alle. Wenn sie depressiv ist, sieht sie keiner am Bildschirm. Das ist eines der Probleme: Die Betroffenen glauben oftmals, dass sie nur, wenn sie "produzieren", geliebt werden und wenn sie depressiv sind, will sie keiner sehen. Nicht zuletzt deshalb ist eine Charakteristik dieser Krankheit das hohe Suizidrisiko.

derStandard.at: Ist die Gefahr des Suizids gebannt, wenn man sich in medikamentöse und/oder psychotherapeutische Behandlung begibt?

Simhandl: Wenn es um Menschen geht, ist nichts hundertprozentig. Die Gefahr ist nie gebannt, vor allem wenn jemand seine Medikamente plötzlich absetzt. Am Anfang einer medikamentösen Behandlung können noch depressive Phasen auftreten und das führt oft zu Resignation: Jetzt nehme ich meine Medikamente und trotzdem bin ich depressiv. Betroffene, die es schaffen, längerfristig Medikamente zu nehmen, haben ein deutlich niedrigeres Suizidrisiko, das dem der Normalbevölkerung entspricht.

derStandard.at: Haben Sie in Ihrer Praxis mit vielen 'manisch-kreativen' Klienten zu tun?

Simhandl: Ja, mit Künstlern aber ebenso mit Menschen, die zahlreiche andere Formen kreativen Schaffens praktizieren. Wir gehen davon aus, dass ein bis zwei Prozent der Bevölkerung manisch-depressiv sind. Das sind die schwereren Fälle, die auch ins Spital kommen. Es gibt noch einen sehr viel größeren Anteil, der mit leichten Stimmungsschwankungen konfrontiert ist. Die Betroffenen erreichen nicht das Vollbild der Manie, sondern sind hypomanisch: Es handelt sich um die lustigen Leute, die zum Beispiel mit ihrem super Schmäh große Runden unterhalten. Es handelt sich auch um Wissenschaftler, Geschäftsleute, die oft viel Geld in die Hand nehmen, ein größeres Risiko eingehen, sagen, dass sie mit drei Stunden Schlaf auskommen und am nächsten Tag nicht müde sind - und das über einen längeren Zeitraum.

Viele Politiker erwecken bei mir den Eindruck, als ob sie in der Nähe des Manisch-depressiven wären: 16 bis 18 Stunden Arbeitstage, wie sie mit dem Geld umgehen, öffentlich erklären, dass man nur drei bis vier Stunden Schlaf braucht... Betroffene Patienten bemerken solche Verhaltensweisen sehr genau.

derStandard.at: Kann es sein, dass mit der therapeutischen Behandlung einer Manie die Kreativität schwindet?

Simhandl: Es gibt eine etwas ältere Untersuchung mit 40 bipolaren Künstlern im Hinblick auf Kreativität und Produktivität. Mit einer Ausnahme stieg bei allen die Produktivität unter der konstanten Einnahme von Stimmungsstabilisierern, während die Ideen, beziehungsweise die Aktionen, die man sich nur in der manischen Phase traut, abnahmen.

Die Kreativität und die Intensität des Lebens ist in der manischen Phase vielleicht verstärkt, aber ob aus der Kreativität heraus etwas Produktives entstehen kann, bliebt dahingestellt. Im Rahmen einer Manie ist die Konzentrationsleistung schlechter. Die Produktivität steigt, sobald die manische Phase vorbei ist.

derStandard.at: Was, wenn sich jemand aus Angst vor dem Verlust der Kreativität nicht in Therapie begeben will?

Simhandl: Abgesehen davon, dass das möglicherweise für das Zusammenleben oder wegen der Suizidalität ein Drama ist, muss man das akzeptieren. Wenn jemand seine Kreativität nicht missen will, ist das ein höchst individuelles, schwieriges Thema und im Einzelfall abzuwägen. Es gibt Künstler, die ohne ihre manischen Episoden nicht leben wollen und keine Medikamente einnehmen.

Es geht darum, anzuschauen, wie viel Manie ist für den Betroffenen o.k, wie viel ist nicht o.k. Beim Verlust der Kreativität setzen viele Betroffene ihre Medikamente ab. Dann werden sie wieder manisch, aber sie schaffen in der Manie nichts, weil ihre Produktivität sinkt. Alle glauben, dass sie ganz sicher eine Manie erleben werden. Das ist natürlich nicht immer so. Mit der Depression wird nicht gerechnet.

derStandard.at: Wie kann und soll die Gesellschaft mit Menschen in einer manischen Phase umgehen?

Simhandl: Es ist immer eine Frage der Familie oder des sozialen Umfeldes, wie jemand aufgefangen oder begleitet werden kann. Bei Manikern liegen gesunder und übermäßiger Schaffensdrangeng beisammen und nicht alles, was Maniker erfinden oder schaffen, ist genial. Schon Aristoteles hat die gesellschaftliche Wichtigkeit dieser Kreativität betont. Doch viele Bipolare ziehen sich von der Gesellschaft zurück. Es ist eines unserer Ziele, diese positiven Eigenschaften therapeutisch hervorzuheben, auch im Rahmen einer Stärkung des Selbstwertgefühls. (Eva Tinsobin/derStandard.at/18.01.2011)