In den letzten Wochen haben sich viele mehr oder weniger berufene Personen zum Gesetzesentwurf der Frau Minister Bandion-Ortner geäußert, nach welchem für Fehler bei der pränatalen Diagnostik ("wrongful birth") grundsätzlich nicht mehr gehaftet werden soll. Olaf Arne Jürgenssen nimmt im STANDARD vom 13. 1. (siehe "Schadensfall Kind - OGH-Urteile als Lotteriespiel?") zu meinem Kollegen Georg Graf Stellung und schreibt, dass ihn dieser "ob seiner fehlenden Rechtskenntnisse" schon verwundere. Wenn ein pensionierter Primar einen Rechtsprofessor über das Recht belehrt, muss etwas im Argen liegen.

Jürgenssen versucht darzustellen, dass auf Grund der derzeitigen Spruchpraxis "OGH-Urteile zur Lotterie" würden. Wieso der Autor von einer divergierenden Judikatur auf die Rechtsunkenntnis von Graf schließt, bleibt im Dunkeln. Aber mir geht es gar nicht darum, Graf zu verteidigen, vielmehr können die zahlreichen Rechtsirrtümer des Herrn Jürgenssen nicht unwidersprochen bleiben.

1.) Die Behauptung, dass die Abtreibung nach gültiger Rechtslage grundsätzlich verboten und nur unter bestimmten Voraussetzungen straffrei sei, ist unrichtig. Nach Rechtsprechung und herrschender Lehre ist der Schwangerschaftsabbruch aufgrund embryopathischer Indikation kein Strafausschließungs-, sondern ein Rechtfertigungsgrund. Der Schwangerschaftsabbruch ist daher rechtmäßig. Wäre dem nicht so, hätte der OGH selbstverständlich den Schadenersatzanspruch verneint.

2.) Jürgenssen will einen Widerspruch darin sehen, dass in der ersten Entscheidung (1 Ob 91/99k) nur der durch die Behinderung bedingte Mehrbedarf, in Folgeentscheidungen (5 Ob 165/05h, 5 Ob 148/07m) hingegen der gesamte Unterhalt als Ersatz zugesprochen wurde. Auch das ist schlicht falsch. Im ersten Urteil wurde nur der Mehrbedarf eingeklagt. Gerichte können nicht mehr zusprechen, als begehrt wird. Auf die unterschiedlichen Klagebegehren hat der OGH in 5 Ob 165/05h auch ausdrücklich hingewiesen. Sorgfältige Lektüre der Entscheidung hätte diesen Fehler vermieden.

3.) Richtig ist, dass die Bejahung der Haftung für "wrongful birth" (fehlerhafte Pränataldiagnostik) und ihre Verneinung für "wrongful conception" (z. B. fehlerhafte Sterilisation) einen Wertungswiderspruch darstellt. Auf diesen haben zahlreiche Rechtswissenschafter hingewiesen und festgehalten, dass auch für "wrongful conception" zu haften ist. Dass der OGH selbst dann die Ersatzpflicht verneint, wenn ein Arzt statt der vereinbarten zwei Embryonen drei implantiert, ist eine Fehlentscheidung, die vom Gesetz zementiert worden wäre. Die oft beschworene Ethik kann dafür nicht herangezogen werden: Kann sich eine Schwangere ein weiteres Kind finanziell nicht leisten, könnte sie sich durch den Ausschluss der Haftung zu einem Schwangerschaftsabbruch genötigt sehen. Hier kann ein Ersatzanspruch eine Abtreibung unter Umständen gerade verhindern.

4.) Es mag beckmesserisch erscheinen, Jürgenssen auch rechtstechnische Fehler vorzuhalten, aber wer als Laie den Mund so voll nimmt, muss sich das wohl gefallen lassen. Wenn Jürgenssen "kein strafbares Verhalten" erkennen kann, ist das eine Themaverfehlung; zumindest Straf- und Schadenersatzrecht sollte man auseinander halten können.

Wie jedes Höchstgericht der Welt ist auch der OGH - dessen Judikatur von anerkannt hoher Qualität ist - nicht davor gefeit, Fehlentscheidungen zu fällen. Wenn dies einmal der Fall ist, ist Kritik durchaus angebracht. Unhaltbare Angriffe von dilettierenden Hobbyjuristen sind aber der Rechtskultur nicht zuträglich. Ich wollte eigentlich mit dem Spruch "Schuster bleib ..." schließen. Die beeindruckenden Rechtskenntnisse von Prof. Husslein (Im Zentrum, 9. 1.) halten mich aber davon ab. Da es der ORF nicht für nötig befunden hat, zu einem Schadenersatzthema einen Rechtsexperten einzuladen, konnte durch die Ausführungen Hussleins das Niveau noch einigermaßen gehalten werden. (Andreas Kletecka, DER STANDARD, Printausgabe, 19.1.2011)