Auch die Notfallmedizin ist das Metier der Anästhesisten

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Hans-Georg Kress: "Das Zentralnervensystem ist unser 'Hauptzielorgan'"

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"Langsam bis zehn zählen", mit dieser Aufforderung sind Patienten, denen eine Operation bevorsteht, vertraut. Diese Anweisung und ein Aufklärungsgespräch am Tag vor einer Operation sind damit häufig die einzigen Lebenszeichen, die Patienten von ihrem Anästhesisten mitbekommen. Die medizinischen Aktivitäten im OP-Saal entscheiden manchmal über Leben und Tod und dass die Patienten am OP-Tisch davon unbehelligt sind, obliegt der Verantwortung der Anästhesisten. Weniger bekannt ist, dass sie nicht nur "Narkoseärzte" sind, sondern auch Spezialisten auf anderen Fach-Gebieten.

Der ganze Körper als Aufgabe

Das Berufsfeld steht auf vier Säulen. Zum einen gibt es die bekannte Tätigkeit im OP, die aber weit mehr umfasst als nur die Gabe von Anästhetika zur Narkose oder zur Teilbetäubung. Das beginnt schon bei der präoperativen Vorbereitung und Risikoeinschätzung (perioperative Betreuung, Anm.) - sie ist einzig und allein Sache des Anästhesisten, denn er alleine gibt auch die Anästhesie und beurteilt das Operations- und Anästhesierisiko. Auch die allgemeine operative Intensivmedizin ist Aufgabe der Anästhesisten. Die beiden weiteren Säulen Notfallmedizin und Schmerzbehandlung sind interdisziplinär - dort sind auch andere Disziplinen tätig - ebenso in der Intensivmedizin. 

Die Vielfältigkeit des Betätigungsfeldes ist auch der Hauptgrund, warum sich Hans-Georg Kress, Leiter der Klinischen Abteilung für Spezielle Anästhesie und Schmerztherapie am Wiener AKH, vor 33 Jahren für den Beruf entschieden hat: "Unsere Tätigkeit erfasst den gesamten Organismus, den gesamten Patienten. Über Kardiologie und Pulmologie müssen wir genau so Bescheid wissen, wie über das Zentralnervensystem, das das "Hauptzielorgan" der Anästhesie ist."

Aufgaben der Schmerztherapie

Die Schmerztherapie ist ein im öffentlichen Bewusstsein viel zu wenig wahrgenommener Tätigkeitsbereich von Anästhesisten. "Hier sind wir direkt als Therapeuten tätig, nicht nur als Dienstleister um anderen Disziplinen eine OP zu ermöglichen", erklärt Kress, "wir behandeln Akutschmerzen schon fast seit Jahrhunderten, nämlich seitdem es die moderne Anästhesie gibt - also seit der ersten erfolgreichen Äthernarkose 1846." Das geschieht rund um Operationen und auch danach. Anästhesisten können sich über das Österreichische Ärztekammerdiplom für Spezielle Schmerztherapie oder über die deutsche Weiterbildung zum Schmerztherapeuten weiter auf dem Gebiet spezialisieren. Sie behandeln dann auch alle Formen chronischer Schmerzen - ob im Bewegungsapparat, Kopfschmerz oder neuropathische Schmerzen.

Vertrauen als positive Motivation

Anästhesisten sind die einzigen Fachärzte, die während der Behandlung lebenswichtige Körperfunktionen außer Kraft setzen. Etwa die Atmung - damit liegt das Leben des Patienten tatsächlich in ihren Händen. Die Vertrauenshaltung der Patienten ist für den Mediziner schon ein Thema: "Für mich ist es kein Druck, sondern eine sehr positive Motivation. Aber natürlich auch eine sehr große Verantwortung. Dieser Herausforderung stellt man sich als Anästhesist freiwillig und - zunächst einmal gerne." Jemand, der diese Verantwortung als negativen Druck oder gar als Belastung empfinde, sollte sich ein anderes Tätigkeitsfeld suchen, rät Kress, der auch Ordinarius und Lehrstuhlinhaber für Anästhesie, Intensivmedizin und Schmerztherapie ist.

Studien zeigen, dass Anästhesisten eine besonders hohe Suizidrate unter den Medizinern aufweisen. Die Gründe dafür interpretiert Kress so: "Das kann damit zusammen hängen, dass der Anästhesist in bestimmten Situationen wenig Zeit hat, die richtigen Entscheidungen zu treffen." Ein Dermatologe, selbst ein Internist, habe Zeit nachzudenken, nachzulesen, Kollegen zu befragen, bevor er Maßnahmen setzt. "Wenn Sie eine lebenswichtige Funktion außer Kraft gesetzt haben, und der Patient Probleme bekommt, müssen Sie innerhalb weniger Minuten das Richtige tun um ihn nicht zu schädigen. Das kann dazu führen, dass der eine oder andere nach längerer Tätigkeit hier auch für sich selbst ein Problem sieht."

Umgang mit Ängsten der Patienten

Die Angst mancher Patienten während der OP aufzuwachen, ist durchaus Gesprächsthema in Vorbereitungsgesprächen: " Wir wissen von dieser Angst, wenn die Patienten das ansprechen, sprechen wir mit ihnen ausführlich darüber." Es gebe immer wieder auch ernst zu nehmende Berichte über Fälle von 'Awareness': "Patienten wachen letztlich aufgrund von menschlichen Fehlern während der Narkoseführung - selten aufgrund von technischen Defekten - teilweise auf. Das ist sehr selten, kommt aber vor. In der Regel muss der Patient davor keine Angst haben, denn wenn sein Anästhesist alles richtig macht, kann es nicht passieren", beruhigt Kress, der auch Präsident der Europäischen Schmerzgesellschaft ist.

Distanz und doch Mitgefühl

Was für alle Mediziner gilt, aber besonders auch für Notärzte: sie müssen ein gesundes Maß an Distanz und Empathie praktizieren. "Nur so kann ich dem Patienten auch tatsächlich helfen. Das Schlimmste wäre ein Arzt, der verzweifelter ist als der Patient selbst und den der Patient dann trösten muss", meint Kress. Das sei professionelles Handeln, das der Arzt im Laufe seiner Facharztausbildung erst erwerben müsse. 

Nachwuchssorgen

Trotz der Vielfältigkeit des Berufs - Ländern wie Deutschland, Großbritannien und auch einigen skandinavischen Ländern fehlt es zunehmend an jungen Anästhesisten. Österreich hat laut Kress noch keine Nachwuchssorgen, aber auch das könne sich bald ändern. Der Grund: Anästhesisten haben nur schwer die Möglichkeit sich in freier Praxis zu betätigen und wenn, am ehesten als Schmerztherapeuten. Damit sind sie immer an ein Krankenhaus oder andere Institutionen gebunden. "Das macht die Sache etwas weniger attraktiv", weiß Kress.

Auch die Arbeitsbedingungen spielen eine Rolle: Nachtdienste und Nachtbereitschaft, oftmals ständige Erreichbarkeit sind ein Muss. "Eine Intensivstation kann man nicht um fünf Uhr abschließen. Auch die Operationen laufen in vielen Bereichen fast 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche. Das heißt die Belastung des Anästhesisten verglichen mit anderen Berufsgruppen ist schon etwas höher", schildert Kress.

Positiv verändert habe sich die Anerkennung innerhalb der Ärzteschaft: "Lange Zeit sind wir als Ergänzung des Operateurs angesehen worden. Die moderne Medizin ist ohne die Leistungen der Anästhesie auf der Intensivstation, im Aufwachraum und in der Vorbereitung des Patienten gar nicht denkbar", so Kress. Allerdings wirken Anästhesisten trotzdem oftmals im Verborgenen - schwierig für Selbstdarsteller. (Marietta Türk, derStandard.at, 21.1.2011)