Wien - Die moderne Forschung über die europäische Völkerwanderung vor rund 1500 Jahren liefere Erkenntnisse über die Tabus im Umgang mit der Migration von heute - meint Walter Pohl, Professor für Mittelaltergeschichte an der Uni Wien. Vor allem, was das auffällige Nicht-Reden über die ökonomischen Aspekte der Zuwanderung angehe, über "den Arbeitskräftemangel und daher notwendigen Arbeitskräfteimport von außen".

"Damals wie heute werden ausländische Kräfte für niedrige Arbeiten gebraucht - im 4. bis 7. Jahrhundert nicht zuletzt als billige soldatische Söldner. Damals wie heute gesteht man sich nicht ein, dass dies der Fall ist. Also schlägt den Ankommenden Verachtung entgegen", erläutert Pohl im Standard-Gespräch. Natürlich, so schränkt er ein, sei das Ausmaß der Entrechtung durch die Sklavenwirtschaft im politisch stückweise zusammenbrechenden, wirtschaftlich regional jedoch weiter prosperierenden Römischen Reich nicht "mit dem Anwerben von Gastarbeitern" oder der Beschäftigung illegaler Einwanderer in den spanischen und italienischen Agrargebieten der EU zu vergleichen.

Ähnlich jedoch sei "der Blick einer Zivilisation in selbstgewisser Überlegenheit auf sogenannte Barbaren, die von jenseits der Grenze kommen", schreibt der Träger des Wittgenstein- und des ERC-Advanced-Grant-Preises in einem Kommentar für die Neue Zürcher Zeitung. Die Hunnen, die Vandalen, die Goten, die Franken und Langobarden: Nach den aus der Antike überlieferten Barbarenbildern - wobei das altgriechische Wort "barbaros" das "Gebrabbel" der Fremden nachahme - hätten sie als "schmutzig, unberechenbar, gewalttätig, betrügerisch und unzivilisiert" gegolten.

Und sie seien andererseits verklärt und romantisiert worden - als "edle Wilde" in antiken und mittelalterlichen Texten, die ein "einfaches und naturgemäßes Leben" führten: Feind- und Fremden-Bilder, die in der Folge von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Die sich wandelten und ergänzten - etwa durch das Auftauchen des Islam, der laut Pohl zuallererst als "abtrünnige christliche Sekte" interpretiert worden sei. Die jedoch, bis hinein ins 20.Jahrhundert, als "Zerrbilder" unangefochten blieben und Zuwanderer als Angehörige geschlossener Gruppen, Ethnien, Völker interpretiere. "Individualisten", meint Pohl, "sind in dieser Sicht der Dinge nur wir selber."

Es sei diese lange Geschichte der Fremdbilder, die sie in heutigen Diskussionen über "die Türken" oder "die Ausländer" für viele so plausibel machten. Schleier oder Minarette als Bedrohung zu empfinden, sei nicht selbstverständlich, meint der Historiker: "Da gehören hoch aufgeladene Erklärungsmuster dazu." (Irene Brickner/DER STANDARD, Printausgabe, 22./23. 1. 2011)