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Szenen aus der Vergangenheit: Eine japanische Familie genießt Badefreuden in der Nähe des Reaktors 3 in Mihama.

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André Gazsó: "Wir wissen nicht zu hundert Prozent über Naturkräfte Bescheid, also können wir die Natur nicht zu 100 Prozent kontrollieren."

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Trotz vieler schwerer Unfälle habe man bisher nicht nur in Japan, sondern weltweit die Energiewende verabsäumt. Peter Illetschko fragte.

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Standard: Politiker fordern den Ausstieg aller EU-Staaten aus der Atomenergie. Ist das überhaupt realistisch und umsetzbar angesichts der Vielzahl an Atomreaktoren?

Gazsó: Es ist problematisch, davon zu reden, ohne das Ausstiegsszenario zu beschreiben. In Japan zum Beispiel werden 30 Prozent der großen Energiemengen, die dieses hochtechnisierte Land braucht, durch Atomenergie hergestellt. Es gibt keine vergleichbare Kapazität an alternativen Energieformen, die ein durch den Ausstieg entstehendes Versorgungsloch sofort füllen könnten. Japan steckt diesbezüglich also in einer Klemme. Das Gleiche gilt für europäische Staaten wie Frankreich oder Deutschland. Da müsste man noch viel Aufbauarbeit leisten, das dauert Jahrzehnte. Man bräuchte einen konkreten politischen Fahrplan, müsste endlich eine effektive Forschungsstrategie für alternative Energietechnologien entwickeln, gleichzeitig aber immer noch Nuklearingenieure ausbilden, um den Ausstieg aus der Atomenergie abwickeln zu können. Wer von den konkret notwendigen Maßnahmen nicht spricht, erweckt bei den Bürgern den Eindruck, das Problem von heute auf morgen lösen zu können. Dabei gibt es noch nicht einmal einen politischen Beschluss für einen gesamteuropäischen Ausstieg aus der Atomenergie.

Standard: Warum ist man denn nicht schon längst ausgestiegen?

Gazsó: Nach dem Zweiten Weltkrieg galt die Atomenergie als pragmatische Lösung. Da hat man Tatsachen geschaffen und sich auch in komplexe Abhängigkeitssituationen gebracht. Mittlerweile steckt sehr viel Geld dahinter, und es erscheint aus heutiger Sicht als schwierig, die vielfältigen Partikularinteressen, die an dieser Technologie hängen, zurückzudrängen. Der Reaktorunfall von Three Mile Island in den USA 1979 hatte zwar massive negative Auswirkungen auf die Anlagenhersteller, die dann in den folgenden Jahrzehnten in neue Märkte ausgewichen sind. Die Atomindustrie ging dann eben angesichts der Probleme in den USA und Westeuropa in den Osten und nach Afrika, nach Japan, Indien und in den letzten Jahren nach China.

Standard: Es heißt, es gab danach keine neuen Bewilligungen für Reaktoranlagen. Heißt das auch, dass nur alte Reaktoranlagen in Betrieb sind?

Gazsó: Nein. Die Technologien, vor allem die Sicherheitsvorkehrungen, sind selbstverständlich immer wieder verbessert worden, nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen aus früheren Störfällen. Das führen die Atomenergiekonzerne auch ins Treffen, wenn sie kritisiert werden. Das Grundproblem hat sich im Wesentlichen aber nicht geändert. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Katastrophe kommt, ist zwar gegenüber den Anlagen aus früheren Jahrzehnten gesunken. Diese Wahrscheinlichkeit sagt aber noch nichts darüber aus, welches Risikopotenzial im Ernstfall besteht. Das ist sehr hoch, wie man nun in Japan sieht und wie man bereits durch Tschernobyl weiß. Letztlich urteilt die Bevölkerung das Risiko nach dem Schadenspotenzial und nicht nach Eintrittswahrscheinlichkeiten.

Standard: Die Angst vor einer Atomkatastrophe war aber auch aus den Köpfen der Menschen verschwunden. Und das nach zwei großen Reaktorunfällen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Warum?

Gazsó: Wenn es lange keine Unfälle gibt, tritt eine Gewöhnung an das Risiko ein. Das ist bekannt und kann vielleicht jeder, der oft mit dem Flugzeug unterwegs ist, nachvollziehen. Nach Harrisburg 1979 war man zwar gewarnt. Da es aber keine unmittelbaren gesundheitlichen Folgen gab, war die Angst vor der Atomkraft nicht lange präsent. Das war anders nach Tschernobyl. Aufgrund der zahlreichen Toten und des hohen Materialeinsatzes, was letztlich auch zur Destabilisierung der Sowjetunion beigetragen hatte, verankerte sich das Umweltbewusstsein in der Gesellschaft. Das wird aber laufend von anderen Problemen überdeckt. Von unmittelbaren Existenzängsten zum Beispiel wie etwa Arbeitsplatzsicherheit und Altersversorgung.

Standard: Wie zeigt sich das?

Gazsó: Zum Beispiel am Volksbegehren für den Euratom-Ausstieg, das keinen großen Zulauf hatte. Da gab es keinen Rückhalt mehr in der Bevölkerung. Man interessierte sich nicht. Es herrschte Passivität zum Thema. Aktive Atompolitik hat keinen hohen Stellenwert. Man braucht den Anlass und zeigt sich im Angesicht der Katastrophe alarmiert. Das war auch nach anderen Industrieunfällen so: zum Beispiel während der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko. Man zeigte sich betroffen, thematisiert, kritisiert. Dennoch ändert das im Prinzip nichts am hohen Energieverbrauch unserer Gesellschaften. Ein radikales Umdenken fehlt.

Standard: Viele Europäer wundern sich vor allem über den Umgang mit Risiko in Japan. 55 Reaktoren in einer Erdbebenzone erscheint ihnen als besonders gefährlich. Haben die Menschen in Japan in dauernder Angst gelebt?

Gazsó: Nein. In unmittelbarer Nähe bewertet man das Risiko nicht so hoch wie in der Ferne. Vor allem dann, wenn auch ein unmittelbarer Nutzen mit einer Technologie verbunden ist, etwa konkrete Arbeitsplätze. Ein Beispiel: Es gibt Volksstämme in Indonesien, die am Hang eines Vulkans leben. Warum? Weil dort die Erde deutlich fruchtbarer ist. Sie fürchten keinen Ausbruch. Alle Versuche, sie abzusiedeln, scheiterten. Japan ist kein rückständiges Land, im Gegenteil: Man kann davon ausgehen, dass sowohl die Technologie als auch die Sicherheitsstandards zumindest nicht schlechter sind als anderswo in Industriestaaten. Gerade in der Erdbebensicherheit sind die Japaner wissenschaftlich und technologisch Vorreiter. Mit einem Erdbeben und einem Tsunami dieses Ausmaßes rechnete niemand.

Standard: Zeigt die Katastrophe nicht deshalb auch, wie unbeherrschbar die Natur von Menschen ist?

Gazsó: Auf Francis Bacon geht der Ausspruch "Wissen ist Macht" zurück. Bacon hat damit allerdings nicht gemeint, dass das Wissen um die Naturphänomene zu einer despotischen Herrschaft über die Natur berechtigen würde. Er meinte damit, dass das Verständnis über die Kräfte der Natur die notwendige Voraussetzung ist, diese Kräfte zum Nutzen des Menschen einzusetzen. Wissenschaft trifft außerdem keine apodiktischen Aussagen, sondern lediglich Aussagen mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit. Wir wissen ja nicht zu hundert Prozent über die Naturkräfte Bescheid, schon allein aus diesem Grund können wir die Natur auch nicht hundertprozentig kontrollieren. Und unter diesem Aspekt ist die Frage nach dem akzeptablen Restrisiko nicht nur eine technische, sondern auch eine eminent politische Frage.  (DER STANDARD, Printausgabe, 16.03.2011)