L.A. Noire (Team Bondi/Rockstar Games) ist für PS3 und Xbox 360 erschienen

Foto: Rockstar Games

2009 setzte das Action-Adventure "Uncharted 2" den Maßstab für spielerische Erzählkunst auf ein Niveau, dass nicht nur bisherige Genreperlen sondern auch den unmittelbar zuvor erschienenen Hollywood-Blockbuster "Indiana Jones 4" sehr alt aussehen ließ. Es ist ein aufwändiger Prozess, der an so vielen Stellen das Feingefühl wahrer Künstler benötigt. Doch klappt die Verschmelzung von Videospiel und Film, entsteht eine Art der Unterhaltung, die stärker zu bewegen vermag, als das Kino allein dazu in der Lage ist. Denn man wird selbst zum Akteur, nimmt aktiv Teil an einer fremden Fantasie. Mit "L.A. Noire" hat das australische Studio Team Bondi einen weiteren großen Schritt in diese Richtung gemacht und bisher vermutete Grenzen aufgehoben.

Flucht nach vorne

Es ist das Jahr 1947. Los Angeles ist in den aufgesetzten Glanz der Generation Starlet getunkt, wirkt noch ohne Autobahnen und der ewig strahlenden Sonne Kaliforniens über dem heilen Banner "Hollywoodland" wie ein heilender Wattebausch für die gezeichneten Heimkehrer des zweiten Weltkriegs. Auf der Flucht vor der Vergangenheit reiht sich auch der hoch dekorierte Veteran Cole Phelps als aufstrebender Polizist in dieses zweifelhafte Sittenbild zwischen Glamour, missbrauchten Komparsinnen und Drogen handelnden Produzenten ein. Mit dem Gefühl, etwas gut machen zu müssen, strebt Phelps die Karriere als Gesetzeshüter an und versetzt einen damit in die Rolle eines Detective in der Stadt der fallenden Engel.

Realismus zwischen Ellroy und Noir

Wie die mit ihren Wahrzeichen, Bars und Kulissen großteils Archivaufnahmen nachempfundene Stadt selbst wurde auch Phelps fiktiver Werdegang in reale Schrecken der damaligen Verbrechenswelt verstrickt. Mit scharfem Blick auf James Ellroy entdeckt man bereits als Streifenpolizist, dass selbst harmlos wirkende Fälle ein tieferes Übel in sich bergen können. Auf der Suche nach dem rauchenden Revolver findet man beim Verdächtigen eine Gehaltsliste gespickt mit allzu vertraut klingenden Namen aus dem Kollegenkreis. Eine Blutfontäne im Mondlicht zeugt selbst 70 Jahre später von der Inspirationskraft des Film Noir, während man im Blutbad bestialischer Morde und entgegen der Resultate fordernden Obrigkeit verzweifelt nach dem größeren Ganzen, der schwarzen Dahlie sucht.

Mit Verstand und dem Bleistift im Anschlag

Vielleicht unerwartet für ein Werk aus dem Hause Rockstar Games bemüht man bei der Stellung von Dieben, Betrügern und Killern zumeist nicht den Colt, sondern den eigenen Verstand. Nach einem kurzen Briefing in der Zentrale geht es auf zum Tatort und die Spurensuche. Beweismittel müssen gefunden und zusammengetragen werden, um als Druckmittel bei der Zeugenbefragung eingesetzt werden zu können. Die Ermittlung selbst stellt damit den Mittelpunkt der Handlung. Zwischen Täter und Zeugen gilt es mit dem Auge für Zusammenhänge die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen. Ist die mit Lippenstift gezeichnete Nachricht auf dem verstümmelten Körper einer jungen Dame ein Hinweis auf einen Serienmörder oder versucht nur jemand den Verdacht von sich zu lenken? Was macht ein Blumenhändler mit einer Lagerhalle voll Schnapsflaschen? Und weshalb erschießt ein Juwelier einen Schuhladenbesitzer bei helllichtem Tage auf offener Straße?

Gelebter Krimi

Das Drehbuch wird durch die besten Elemente der Spiel- und Filmkunst zum Leben erweckt. So darf man sich als Mann des Gesetzes frei durch die Straßen LAs bewegen, hinter dem Steuer eines stromlinienförmigen Chevis die historischen Schauplätze wie ein Zeitreisender inhalieren. Reißt ein Tatverdächtiger aus, nimmt man die Verfolgung auf, mimt Katz und Maus auf heißen Ziegeldächern und über klapprige Feuerleitern und zückt zur Not schon einmal die Flinte, wenn der Mob antanzt. Doch die zentrale Arbeit auf den Tatorten und mit den involvierten Figuren selbst ist es, die diesen Trip in ein Paralleluniversum zum nervenaufreibenden Krimi macht. So wie der von Aaron Staton ("Mad Men") inszenierte Protagonist selbst, werden sämtliche der rund 400 Charaktere von echten Schauspielern verkörpert. Mit einer eigens entwickelten Technologie namens MotionScan wurden die Köpfe der menschlichen Vorbilder gescannt und eins zu eins ins Spiel übertragen.

Wahrheit, Zweifel oder Lüge

Dadurch ist es möglich, Verdächtigen Lügen oder Zweifel vom Gesicht abzulesen. Stirnfalten, Augenrollen, erstmals menschliche Ausdrücke lassen den Wunsch, nicht vor sondern im Theaterstück zu sein, wahr werden. Man selbst macht sich ein Bild vom Tatort, man selbst sucht nach Hinweisen, man selbst untersucht autentisch ohne Handschuhe die Leichen, man selbst erkundigt sich beim Waffenverkäufer nach dem Besitzer einer Mordwaffe, man selbst liefert den schlagenden Beweis und erzwingt schlussendlich Geständnisse. Fast schon nebenbei findet man in verwüsteten Wohnungen und in staubigen Lagerhallen dann Zeitungen, die von den revolutionären Methoden eines Psychaters berichten. Man beginnt sich zu wundern, was hinter der Ansage "The mind ist the final frontier" steckt und erkennt, dass sie dem intoxinierten Universum Hollywoods tatsächlich ein interpretationsfreudiges Motto gibt. So wird im Sumpf der liebevoll platzierten Details, im Sturm dramatischer Dialoge, dem schummrigen Licht der Scheinwerfergesellschaft, fasziniert von der Mode wie den Sitten der Zeit die Illusion beinahe perfekt.

Es bedarf der Reifung

"Beinahe perfekt" deshalb, weil "L.A. Noire" in seiner Vielseitigkeit als erstes Spiel seiner Art nicht alle Aspekte ausgefeilt wiedergeben kann. Die Fälle, die Dialoge, das dargebotene Schauspieltalent bewegen ungemein, Schwächen im Aufbau und teils gemächliches Erzähltempo führen aber vor allem gegen Ende immer wieder zu Leerläufen. Die Einbettung eines filmreifen Thrillers in eine atmende, lebende Stadt, die sowohl intellektuell anspruchsvolle Seiten, als auch Actionelemente kennt, ist wegweisend für die Branche. Dass die Geschichte im Gegensatz zum offenen Universum geradlinig ist, sei ob des ersten Anlaufs verziehen. Es lässt sich aber nicht drüber hinwegsehen, dass es bei grundlegenden Aspekten wie der Steuerung an Feinschliff fehlt und sich Gameplay-Schemen zu oft wiederholen. Wobei letzter Kritikpunkt bei der Schar an Copy&Paste-Shootern fast ein wenig unfair platziert wirkt.

Fazit

Team Bondi hat es geschafft, die Vision eines "Heavy Rain" mit der spielerischen Universalität eines "Grand Theft Auto" zu kreuzen. Die entstandene Mutation ist nicht frei von Fehlern, aber ein neuer Meilenstein für das Open-World-Genre und stellt eingefahrene, eingleisige Konzepte einmal mehr in Frage. So wie "Uncharted 2" die inszenatorische Messlatte für Action-Adventure höher gelegt hat, verändert "L.A. Noire" die Erwartungen, die man in einen gespielten Thriller setzen kann. Es ist, als ob man ins Kino geht und am nächsten Tag von einer Zeitreise zurückkommt: Unerwartet, verblüffend.

(Zsolt Wilhelm, derStandard.at, 21.5.2011)