Jeff VanderMeer: "The Steampunk Bible. An Illustrated Guide to the World of Imaginary Airships, Corsets and Goggles, Mad Scientists, and Strange Literature"
Gebundene Ausgabe, 224 Seiten, Abrams Image 2011.
Steampunk ist eindeutig das Genre der Stunde ... und nach ein wenig Nachdenken bin ich zu der Meinung gekommen, dass dies ein durchaus erfreulicher Umstand ist. Einfach deshalb, weil Steampunk zwar ein gewisses - ohnehin sehr großzügig definiertes - Setting vorgibt, in Sachen Plot-Vielfalt aber einen sehr viel größeren Freiraum lässt als die beiden vorangegangenen Modewellen "Vampire" und "Zombies"; mögen sie in Frieden ruhen. Und lange. Natürlich kreist auch Steampunk trotz aller wachstumsbedingten Aufsplitterung um eine Mitte. Die wurde mal auf eine (nicht 100 Prozent ernstgemeinte) Formel gebracht, die da lautet: STEAMPUNK = Mad Scientist Inventor [invention (steam x airship or metal man / baroque stylings) x (pseudo) Victorian setting] + progressive or reactionary politics x adventure plot. Jeff VanderMeer, ein Autor des Ungewöhnlichen, der zusammen mit seiner Frau Ann bereits mehrere Steampunk-Anthologien zusammengestellt hat, gibt diese Formel zwar wieder, hat sich für seinen wagemutig "The Steampunk Bible" betitelten Bildband aber sehr bemüht, das Genre aus verschiedensten Perspektiven zu betrachten. Wer mit Steampunk bislang noch gar nichts zu tun hatte, bekommt hier eine umfassende Einführung - und alle anderen zumindest eine Sintflut an phänomenalen, fantastischen, wahnwitzigen, göttlichen Bildern. A world seen through aviator goggles, kurz: eine Augenweide!
Auch wenn dies hier eine Rubrik für LeserInnen ist, macht Literatur nur einen Teil des Phänomens Steampunk aus; und nicht einmal notwendigerweise den größten. Wem dieser Aspekt in "The Steampunk Bible" zu kurz kommt, der kann sich besagten Anthologien VanderMeers widmen - plus/oder einer Auswahl der zahllosen Pendants anderer HerausgeberInnen, die in den vergangenen Jahren nur so aus dem Boden geschossen sind. VanderMeer beginnt den Literaturabschnitt erwartungsgemäß mit den beiden Übervätern Jules Verne und H. G. Wells, die er im Kontext ihrer Zeit und ihrer unterschiedlichen schriftstellerischen Gewichtungen vorstellt. Letztere spiegeln sich in einem Spannungsverhältnis zwischen Eskapismus und Bewusstsein für gesellschaftliche Missstände wider, welches das Genre bis heute prägt. Auch auf weniger bekannte Steampunk-Vorläufer wie das US-amerikanische Krawallblattgenre der Edisonade oder chauvinistische japanische Abenteuerromane um die Jahrhundertwende wird nicht vergessen. Die erste eigentliche Steampunkwelle kam in den 1980er Jahren ins Rollen, mit Romanen von K.W. Jeter (hier die Nachlese zur Rezension von "Die Nacht der Morlocks"), der zugleich der Erfinder des Begriffs "Steampunk" war, sowie von James Blaylock und Tim Powers. Plus, unabhängig davon und ein wenig später, "Die Differenzmaschine" der beiden Cyberpunk-Aushängeschilder Bruce Sterling und William Gibson. Der Roman erscheint 2012 übrigens nach 20 Jahren in einer Neuedition bei Heyne, Vorfreude ist angebracht!
Und auch wenn die heutige Titelvielfalt suggeriert, dass das Genre immer schon dick da war, verebbte diese erste Welle bald wieder. Es sollte eine lange Pause folgen, die bis in die späten Nuller Jahre anhielt, als Gail Carrigher, Jay Lake, Cherie Priest und all die anderen Sterne auf den Plan traten, die heute am Genre-Himmel strahlen. In dieser eigentlich recht langen Interregnumsphase waren es eher Romane, die auch Steampunk-Elemente verwendeten (siehe etwa Stephen Baxters großartige "Time Machine"-Fortsetzung "Zeitschiffe"), die das Fähnlein hochhielten. Und Comics, sei es "Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen" oder "Hellboy" - beide Vorlagen für Verfilmungen. In der Tat ist vielen Steampunk eher ein filmischer als ein literarischer Begriff: Da hätten wir etwa das Will-Smith-Vehikel "Wild Wild West" (das keiner so recht mag; wusste übrigens gar nicht, dass der Film auf einer TV-Serie aus den 60er Jahren beruht), die noch viel misslungenere Neuverfilmung der "Time Machine", die ganz im Gegensatz dazu fantastischen Animes "Das Schloss im Himmel" und "Das wandelnde Schloss" von Hayao Miyazaki, andere Animes wie "Steamboy", die Steampunk/Fantasy-Verschmelzung "Der Goldene Kompass" und ungewöhnliche Einzelfälle wie "#9" oder "Die Stadt der verlorenen Kinder". Und die Liste ist keineswegs vollständig - auf Christopher Nolans "The Prestige" hat VanderMeer vergessen, und viele weitere Beispiele gäbe es auch noch. Kein Wunder, dass Steampunk gerne für Filmproduktionen aufgegriffen wird, die Optik macht eben einfach was her.
Kein Wunder auch, dass die Steampunk-AutorInnen von heute sich weniger auf literarische Vorbilder berufen als auf einerseits Filme (inklusive der kunterbunten Jules-Verne-Verfilmungen der 50er und 60er Jahre) sowie andererseits und vor allem auf Steampunk als gelebte Subkultur - ein real existierendes Phänomen, das seit den 90ern kontinuierlich gewachsen und vor allem in den USA und Großbritannien beheimatet ist. VanderMeer widmet diesem Aspekt zwei lange Abschnitte. Im (Irr-?)Glauben, dass dies den LeserInnen hier am wenigsten wichtig ist, überspringe ich mal den Teil, der sich - inklusive Modestrecken - um selbstgemachte Outfits und Accessoires dreht - also all die Möglichkeiten, seiner individuellen Steampunk-Persönlichkeit respektive Steamsona Ausdruck zu verleihen. Ebenso viel Raum erhält nämlich der Abschnitt zu Kunst & Handwerk, der zwar ein Pendant zu dem über die Mode darstellt, aber irgendwie die spektakuläreren Bilder liefert. Und was für welche! Abgesehen von einer Bastelanleitung am Ende gibt's hier unter anderem die mechanischen Riesentiere der französischen Ausstellung Machines of the Isle of Nantes zu bestaunen, die Schrottskulpturen des US-amerikanischen Maschinenparks Forevertron oder auf der mehr praktischen Seite Computer im Design des 19. Jahrhunderts und andere Erzeugnisse von Datamancer und dem Steampunk Workshop. Zu den kursiv gesetzten Begriffen lege ich übrigens jedem eine Google-Search ans Herz, ebenso wie zum Schneckomobil The Golden Mean, dem Raygun Gothic Rocketship oder der Comic- und Waffenbastel-Wunderkammer des Doctor Grordbort.
In Kunst und Handwerk der Bastler bzw. Tinkers drückt sich vielleicht am besten aus, was die Philosophie hinter Steampunk ausmacht: DIY, Individualismus und Kreativität werden großgeschrieben, statt steriler Fließband-Technologie, die ihre Funktionen hinter einer glatten Oberfläche verbirgt wie das iPad, geht es - in den Worten von Altmeister Miyazaki - um the inherent warmth of handicrafted things. Die Form muss gleichermaßen beeindruckend sein wie die Funktion, und beide sollen verstanden werden: Nur wer die Geräte, die er benutzt, auch selber bauen bzw. reparieren kann, hat einen nachhaltigen Zugang zu Technologie und ist für die Katastrophe, auf die unsere nicht-nachhaltige Zivilisation möglicherweise zusteuert, gerüstet (im Netz findet sich übrigens sogar "A SteamPunk's Guide to the Apocalypse" als pdf-File zum Download, nur so für alle Fälle). Womit wir wieder beim Ausgangspunkt angelangt wären, dem oben genannten Spannungsverhältnis zwischen Eskapismus und Gesellschaftskritik.
In "The Steampunk Bible" kommen einige AutorInnen zu Wort, die betonen, dass die Vergangenheit keinesfalls verklärt werden darf und beispielsweise in einem Roman auch auf die - heftigen - sozialen Schattenseiten des viktorianischen Zeitalters und seiner literarischen Derivate einzugehen ist. Viele beherzigen dies - es gibt aber auch jede Menge AutorInnen, die lediglich ein geiles Setting für schwülstige Romanzen und Krimis suchen und Eskapismus in Reinkultur betreiben. SF-Veteran Michael Moorcock hat bereits gallig vorgeschlagen, das Genre in "Steam Opera" umzubenennen, weil es doch viel öfter um Geschichten aus der Upper Class als um solche aus der Welt der ArbeiterInnen ginge, die wirklich im Dampf der Maschinen lebten. Überhaupt der Name: Jay Lake (Autor der ab 2012 auch auf Deutsch erscheinenden "Mainspring"-Trilogie und leider nicht in VanderMeers Buch enthalten) sieht den Genrenamen höchst nüchtern und betrachtet -punk lediglich als Anhängsel, das eine neue Modeströmung bezeichnet, analog zu -gate (wie in Water- oder Nipplegate) für einen Skandal. VanderMeer und seine Ko-Herausgeberin S. J. Chambers lassen aber primär jene zu Wort kommen, die die - angestrebte oder tatsächliche - Ideologie des Genres betonen und "Punk" ganz klar mit der Philosophie des Do-it-Yourself gleichsetzen.
Wird "The Steampunk Bible" nun ihrem anspruchsvollen Namen gerecht? Wenn man sie mit ein paar apokryphen Evangelien ergänzt, auf jeden Fall. Die wären dann im Internet zu finden. Das Buch hat eine eigene Website, auf der auch zahlreiche weiterführende Links zu finden sind, für die auf Papier kein Platz mehr war. Und wenn man schon mal im Netz hängt, kann man auch gleich exotischen, aber ergiebigen Stichwörtern wie "Muslim Steampunk" nachgehen oder sich auf YouTube ein Bild von den vielen im Buch enthaltenen Film- und TV-Serientipps machen (z.B. "Mutant Chronicles", "The Secret Adventures of Jules Verne", "BraveStarr" und das originale "Wild Wild West") - darunter auch solche, die nur hier zu finden sind wie die "Adventures of the League of STEAM". Auf jeden Fall ist "The Steampunk Bible" ein grandioses Coffee Table Book. Und übermäßig bierernst muss man das Ganze ja auch nicht nehmen. Wie Steampunk-Pionier James Blaylock über sein Genre sagt: "I like the intellectual / scholarly efforts to explain and define it but the costumes and the goggles with gears sprouting from the corner and the steam-powered rayguns are simply a lot of fun."