Für alle Gläubigen und die meisten Ungläubigen schien die Sache vollkommen klar: Mohammed (570-632) verkündete den Koran und gründete damit den Islam, der sich in der Folge fast explosionsartig über die halbe damalige Welt verbreitete. Ganze Bibliotheken mit Millionen von Bänden erzählen uns selbst die kleinsten Details dieser Geschichte.

Nun soll das alles ganz anders sein

Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts, einer geisteswissenschaftlich ungemein produktiven Zeit, regten sich Zweifel an der traditionellen islamischen Darstellung, namentlich vorgetragen von Ignac Goldziher. Er nannte die Hadithe, die "Taten und Sprüche des Propheten", auf denen das gesamte Konstrukt des Lebens Mohammeds basiert, Erfindungen späterer Zeiten.

Dann erschöpfte sich die Islamforschung im deutschen Sprachraum ein Jahrhundert lang im Wesentlichen in der Imitation traditioneller islamischer Positionen. Bewegung kam erst wieder in die Szene, als im Jahr 2000 Christoph Luxenberg sein Buch "Die Syro-Aramäische Lesart des Koran" herausbrachte. Es erregte so großes Aufsehen, dass es dieses Fachbuch in deutscher Sprache auf die Titelseite der New York Times schaffte - und auf den Index in Pakistan.

Luxenberg, das Pseudonym eines in Deutschland forschenden Arabers (!) behauptete, die Originalsprache des Koran sei nicht das Koranarabische gewesen, sondern ein aramäisch - arabischer Mischdialekt. Die spätere Übersetzung ins Arabische habe aus Unkenntnis zu oft haarsträubenden Fehllesungen geführt, wie das Kopftuch oder die Himmelsjungfrauen für Märtyrer, was Luxenberg detailliert begründet.

Das Kopftuch ist eine Fehlübersetzung

Andere Forscher berichteten aus ihrem Spezialgebiet von Ergebnissen, die ebenfalls nicht mit dem traditionellen Islambild vereinbar sind. Sie schlossen sich zum Forschungskreis Inarah zusammen, der bislang fünf Bände herausgab, in denen neueste Arbeiten zur islamischen Frühgeschichte zusammengestellt sind. Tenor: Der ursprüngliche Islam ist ein spezielles arabisches Christentum. Die Ursprünge des Korans gehen auf Zeiten weit vor Mohamed zurück, die bekannten Gründungsgeschichten sind erst nachträglich entstandene Legenden. Mohamed selber ist eine literarische Integrationsfigur ohne historische Existenz.

Zwar versuchte der Hauptstrom diejenigen, die solche unerhörten Meinungen vertraten, in die wissenschaftliche Schmuddelecke zu stellen, aber argumentativ gelang keine überzeugende Replik. Auch erhielt dieser Kreis immer mehr wissenschaftlichen Zuspruch aus aller Welt, wenn auch nicht von den großen Namen klassischer Islamkunde.

Das änderte sich, als vor einigen Monaten im ifa-Magazin (Institut für Auslandsbeziehungen, Stuttgart) ein Interview mit Josef van Ess erschien. Van Ess, emeritierter Professor aus Tübingen ist einer der weltweit bedeutendsten Islamforscher, sein Hauptwerk "Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra" umfasst sechs Bände. Allerdings sorgte van Ess in Teilen der Fachwelt für Kopfschütteln, denn er klammerte das erste islamische Jahrhundert aus, also justament die Zeit, in der Mohammed gelebt und den Koran in die Welt gebracht haben soll.

Es gibt keine zeitnahen Berichte über Mohammed

Im besagten Interview liefert van Ess erstmals die Begründung für die Unterschlagung der Ereignisse im 1. islamischen Jahrhundert nach: Wir wissen nichts darüber.

In der Tat stammen selbst die frühesten islamischen Berichte erst aus dem 9. Jahrhundert. Auf die Frage seit wann es den Islam gebe, antwortet van Ess: "Diese Frage ist überhaupt nicht zu beantworten (...), (denn) eines ist klar: Als es den Koran gab, gab es noch lange nicht den Islam."

Josef van Ess weist die traditionelle Sicht der Dinge mit und um Mohammed zurück. Die Wende zum Islam sieht er unter dem Herrscher Abd al-Malik (um 700). Die Wissenschaftler des Inarah-Kreises setzen zwar die Wende nochmals 100 Jahre später an, aber die Konsequenzen sind dieselben: Die Nachfolger des "Propheten", Abu Bakr, Umar und sogar Othman, der Herausgeber des einzig autorisierten Korans, waren keine Muslime, auch der Nachfolgestreit Alis, die Grundlage der Schiiten, hätte sich somit erledigt. Ebenfalls können die berühmten "Omayaden" zumindest bis Abd-al Malik keine muslimischen Kaliphe gewesen sein (was auch archäologische Funde belegen), sondern waren arabisch-christliche Herrscher.

Auch van Ess koppelt den Koran von der Person Mohammeds ab. Für ihn ist es überdies "sehr wahrscheinlich, dass der Islam von Muhamad noch gar nicht intendiert war." Wenn man aber die Rolle des "Propheten" auf eine Marginalie zurückstutzt, ist die Frage nach seiner historischen Existenz schon fast zweitrangig. In etwa zur selben Zeit nennt die Berliner Professorin Neuwirth in einer Kehrtwendung den Koran "eine spätantike Schrift in vormohammedanischer Tradition".

Es scheint nunmehr Einigkeit darin zu bestehen, dass die Wurzeln des Koran in die Zeit vor Mohammed reichen, dass der Koran nicht notwendigerweise mit der Person Mohammeds verknüpft ist und dass sich der Islam nach einer jahrhundertelangen Entwicklungsgeschichte erst deutlich nach dem "Propheten" als eigene Religion manifestierte.

Theologisch- und historisch-kritische Sicht hat nun den Islam erfasst. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber doch ein Novum für die Religion, die sich aus den verschiedensten Gründen lange Zeit historischer Kritik entziehen konnte. (Leser-Kommentar, Norbert Schmidt, derStandard.at, 14.7.2011)