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Breivik kurz vor seiner Festnahme am Freitag auf der Insel Utøya.

Foto: NRK, Marius Arnesen via Scanpix/AP/dapd

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Esbati: "Wenn wir aus diesem Attentat etwas lernen und ähnliche Attacken in der Zukunft vermeiden wollen, ist es notwendig, den politischen und sozialen Kontext zu verstehen, der Breiviks Ideen und seine Weltsicht geprägt hat."

Foto: REUTERS/Wolfgang Rattay

Zur Person: Der 34-jährige Ali Esbati ist Ökonom und lebt in Norwegen. Der Schwede war zwischen 2001 und 2004 Vorsitzender der Ung Vänster (Junge Linke) in Schweden. Derzeit arbeitet er in Oslo als Ökonom für den Think Tank Manifest senter for samfunnsanalyse. Bekannt ist Esbati auch für seine journalistische Arbeit, vor allem für seinen Politik-Blog Esbatis kommentarer

Foto: Ali Esbati

Der ehemalige schwedische Politiker und heute in Norwegen lebende Journalist und Ökonom Ali Esbati war während des Doppelanschlags in Norwegen auf der Insel Utøya. Im Gespräch mit derStandard.at erzählt er, was er dort erlebt hat, welches politische Klima solche Ereignisse begünstigt und warum die Reaktionen der norwegischen Regierung dazu beigetragen haben, "die Diskussion nicht in einem Klima von Angst und Hysterie zu führen".

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derStandard.at: Was haben Sie auf Utøya erlebt?

Ali Esbati: Ich war dort eingeladen, um einen Workshop zu leiten. Als uns die Nachricht über den Bombenanschlag in Olso erreichte, konnten wir nicht sofort nach Oslo zurückzukehren, also ging ich in die Cafeteria, um etwas zu essen. Dann hörten wir Schüsse. Einige Leute sagten, wir sollten uns auf den Boden legen. Zu diesem Zeitpunkt waren wir uns noch nicht sicher, ob es wirklich Schüsse waren. Ich dachte, die Leute würde nach den Ereignissen von Oslo überreagieren.

Wenige Minuten später kamen Leute aus anderen Teilen des Gebäudes in die Cafeteria und haben geschrien, dass wir das Haus verlassen sollen. Dann haben alle zu laufen begonnen. Ich auch. Ich bin eine Art Böschung in der Nähe des Hauses hinuntergerannt.

Einige versuchten sich zu verstecken, andere haben sich auf den Boden gelegt, um zu hören, woher die Schüsse kommen und dann in die andere Richtung zu flüchten. Ich habe gemeinsam mit anderen Leuten versucht mich zu verstecken. Natürlich haben wir auch die Polizei informiert. Die wussten schon aus anderen Anrufen von dem Angriff. Aber es hat länger als 90 Minuten gedauert, bis die Einsatzkräfte auf der Insel waren.

derStandard.at: Hat die Polizei zu lange gebraucht hat, um nach Utøya zu kommen?

Ali Esbati: Ich verstehe die Vorwürfe, aber es war eine Ausnahmesituation. Zur selben Zeit gab es die Explosionen in Oslo, die Einsatzkräfte waren also dort konzentriert. Das war, wie wir heute wissen, auch Breiviks Intention.

derStandard.at: Haben Sie Breivik gesehen?

Ali Esbati: Ja, als ich mich von meinem ersten Versteck wegbewegt habe. Die Leute haben zu laufen begonnen. Also bin ich auch losgelaufen. Ich kam dann an ein Ufer. Zu diesem Zeitpunkt habe ich gehofft, dass alles bald vorbei ist. Wir haben eindeutig Polizeihubschrauber gehört. Genau dann ist Breivik aufgetaucht. Nur 15 Meter von mir entfernt. Er hat etwas wie "Es ist in Ordnung. Das ist die Polizei" geschrien. An den genauen Wortlaut kann ich mich nicht mehr erinnern. Dann hat er zu schießen begonnen. Instinktiv bin ich weggelaufen und, wie viele andere, ins Wasser gesprungen. Ich habe nicht versucht ans andere Ufer zu schwimmen, sondern bin im seichten Wasser geblieben und habe versucht, mich hinter den Steinen zu verstecken. Nur wenig später wurde er festgenommen.

derStandard.at: Welchen Eindruck hat Breivik auf Sie gemacht?

Ali Esbati: Er war sehr ruhig. Ich dachte, er trägt eine Uniform eines privaten Sicherheitsdienstes. So als ob er genau wüsste, was er tut. Er hat keinen gehetzten oder getriebenen Eindruck gemacht.

derStandard.at: In Norwegen reagiert die Polizei derzeit massiv auf jeden noch so kleinen Hinweis auf mögliche Folgetaten. Wie würden Sie die Stimmung in Oslo im Moment beschreiben?

Ali Esbati: Es ist sehr ruhig auf den Straßen. Überall sind Blumen. Es gibt einen starken Willen, dieser Situation nicht zu erlauben, ein Klima der Angst zu erzeugen. Was wir derzeit sehen, ist Norwegen und Oslo von seiner besten Seite.

derStandard.at: Die Reaktion der norwegischen Regierung und insbesondere des Premierministers Jens Stoltenberg ist sehr ruhig und überlegt. Bisher war nie die Rede von einer möglichen Verschärfung der Anti-Terrorgesetze. Wird er dieses Versprechen halten können?

Ali Esbati: Natürlich wird es Diskussionen um das Thema Sicherheit geben. Aber die ersten Äußerungen und Bewertungen von Regierungsseite waren sehr wichtig, um die Diskussion nicht in einem Klima von Angst und Hysterie zu führen. Fast jeder, mit dem ich gesprochen habe, denkt, dass Stoltenbergs Reaktion zwar ruhig und besonnen, gleichzeitig aber auch sehr emotional war.

Ein wichtiger Diskussionspunkt sind die Prioritäten der Sicherheitsdienste. Es ist kein Geheimnis, dass diese Dienste sehr auf radikale Islamisten fokussiert waren. Andere Gefahren, wie zum Beispiel durch islamfeindliche Gruppen, sind hingegen vernachlässigt worden. Auf Neo-Nazi und White Power-Gruppen hatte man zwar auch ein Auge, aber sie wurden nicht als Bedrohung für die Bevölkerung oder die Staatssicherheit wahrgenommen.

derStandard.at: Seit dem Attentat wird in Diskussionen immer wieder die Frage aufgeworfen, wie sehr die Ideologie der rechtspopulistischen Fortschrittspartei, in deren Jugendorganisation Breivik aktiv war, den mutmaßliche Attentäter Anders Behring Breivik beeinflusst hat. Wie sehen Sie das?

Ali Esbati: Ich denke, das ist derzeit die wichtigste Debatte. Breivik ist mittlerweile verhaftet und ihm wird der Prozess gemacht. Aber wenn wir aus diesem Attentat etwas lernen und ähnliche Attacken in der Zukunft vermeiden wollen, ist es notwendig, den politischen und sozialen Kontext zu verstehen, der Breiviks Ideen und seine Weltsicht geprägt hat.

Der einzige juristische Verantwortliche ist Breivik selbst. Aber seine Tat ist ein Akt politischen Terrors, der unverständlich bleibt, wenn man nicht das politische Umfeld mitbetrachtet. Es geht um die Themen Integration und besonders Muslime in Norwegen und anderen westlichen Gesellschaften. Breiviks sieht Muslime als Besatzungsmacht und spricht von einem andauernden Krieg zwischen westlichen und islamischen Gesellschaften.

derStandard.at: Nur 3,5 Prozent der norwegischen Bevölkerung sind Muslime. Das ist verhältnismäßig wenig im Vergleich mit anderen europäischen Staaten.

Ali Esbati: Das stimmt. Aber man muss verstehen, dass Fakten wenig mit Islamphobie zu tun haben. Die Rhetorik des Hasses ist entscheidender. Islamfeindliche Gruppen behaupten weiterhin, dass der Islam eine Gefahr für die westliche Welt und damit auch für Norwegen sei. Oft wird auch demographisch argumentiert: Die Muslime würden in so und so vielen Jahren die Mehrheit stellen. Diese Gruppen sehen andere, die Muslime nicht als Gefahr einstufen, als Verräter an. Das legitimiert in deren Vorstellung den Einsatz drastischer Mittel. Mittel, wie sie gewöhnlich gegen Verräter in einer Kriegssituation eingesetzt werden.

derStandard.at: Norwegen ist eines der reichsten Länder der Welt und hat ein gut ausgebautes soziales Netz. Warum der große Zulauf zu solchen Ideologien?

Ali Esbati: Das ist eben die Frage. Es zeigt, dass Hass entsteht, wenn Leute zu Sündenböcken für alle Arten von sozialen oder wirtschaftlichen Problemen gemacht werden. Wenn Leute miteinander reden und sich ihre Weltsichte gegenseitig bestätigen - auf verschiedenen Websiten oder Kommentarseiten - entsteht ein ideologisches Bezugssystem. Wenn man einen kurzen Blick auf Breiviks Manifest wirft, fällt auf, dass dort eigentlich nichts Neues steht. Das meiste kann man in vielen Foren im Web auch finden. Und das ist nicht auf Norwegen beschränkt. Das hätte auch in Dänemark, Holland, Österreich oder Italien geschehen können. Dort sind dieselben Gedankenwelten über Muslime auch zu finden.

derStandard.at: Rechte Parteien haben derzeit in vielen anderen europäischen Ländern großen Zulauf. Unterscheiden sich die rechten Parteien in den nordischen Ländern von jenen im Rest Europas?

Ali Esbati: Rechtspopulismus ist meistens stark verknüpft mit der politischen Situation im jeweiligen Land. In den nordischen Ländern haben sie sich immer besonders von den starken sozialdemokratischen Parteien abgegrenzt. In deren Sicht waren die Sozialdemokraten immer Verräter in dieser oder jener Sache. Interessant aber ist die Art von islamophober Rhetorik mittlerweile ein gemeinsamer Nenner der rechtspopulistischen Parteien ist. Sie kommen zwar alle von einem unterschiedlichen ideologischen und historischen Hintergrund, aber in allen Programmen lässt sich die Art von islamophober Rhetorik finden, die auch in Breiviks Manifest auftaucht. Das ist eine transnationale Bewegung, die verstanden, analysiert und der entgegengetreten werden muss.

derStandard.at: Gerade die Sozialdemokratie tut sich schwer den Rechtspopulisten zu begegnen. Oft beschränkt sich ihre Antwort darauf, ebenfalls rechtspopulistische Elemente aufzunehmen.

Ali Esbati: Diese Strategie hat sich als desaströs herausgestellt. Die Rahmenbedingungen, unter denen die Rechtspopulisten - besonders in den nordischen Ländern - groß werden konnten, ist die Schwächung der Sozialdemokraten. Entscheidender war aber die Entschärfung des politischen Konflikts entlang der sozioökonomischen Achse. Wenn ich als Wähler in Bezug auf Wirtschaftspolitik, Reform des Wohlfahrtsstaates oder Terrorismusbekämpfung keine Unterschiede mehr zwischen den Sozialdemokraten und den Konservativen erkennen kann, führt das zu Desinteresse oder dazu, dass andere Themen politisch entscheidend werden. Zum Beispiel sogenannte kulturelle Themen oder Immigration.

Um dem steigenden Rechtspopulismus entgegenzutreten, sind zwei Dinge notwendig: Zum einen muss man Islamophobie als die Form erkennen, in der Faschismus und Rassismus heutzutage auftritt. Zum zweiten müssten die anderen Parteien wieder als echte, verlässliche und vielleicht auch radikale Alternative zu den rechtspopulistischen Parteien auftreten.

derStandard.at: Populisten scheitern meist rasch an der Regierungsverantwortung. Was halten Sie von der Idee, rechtspopulistische Parteien in die Regierung zu nehmen? Viele hoffen so auf eine Art Entzauberung.

Ali Esbati: Ich denke, das ist der falsche Weg. Selbst wenn es dazu führt, dass die jeweiligen Parteien in der Regierung scheitern. Denn ihre politische Agenda wird durch die Regierungsbeteiligung zum Mainstream. So bewegen sich zuvor eher marginale Ideen - beispielsweise über Immigranten als konstantes Problem - von der Peripherie in den Mainstream der Debatte. Und das ist entscheidender als der Wahlerfolg solcher Parteien.

derStandard.at: Welche Auswirkungen wird das Attentat auf den Umgang mit Muslimen in Norwegen und die Debatte über Migration haben? Wird es hier neue Ansätze geben?

Ali Esbati: Ich hoffe, dass diese eindrucksvoll unter Beweis gestellte Stärke der norwegischen Gesellschaft zur Rückbesinnung auf ursprüngliche Werte wie Gleichheit aller, ungeachtet der Herkunft und Religion, wieder herstellt. Das war und ist auch Norwegen. Und ich hoffe dieses Norwegen kann beweisen, stärker zu sein als Hass und Fremdenfeindlichkeit. (fin, mka, derStandard.at, 28.7.2011)