Hanspeter Mattes ist stellvertretender Direktor des GIGA-Instituts in Hamburg. Sein regionaler Forschungsschwerpunkt liegt auf Libyen und den Maghrebstaaten.

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Ohne die Nato hätte die Opposition den kurz bevorstehenden Sieg über das Gaddafi-Regime nicht erringen können, meint Hanspeter Mattes, Libyen-Experte am Hamburger GIGA-Institut. Nun gelte es, die unzähligen Interessen im Land auf einen Nenner zu bringen. Ein Vorhaben mit hohem Explosionspotenzial.

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derStandard.at: Ist Gaddafis Zeit als Herrscher Libyens nun definitiv abgelaufen?

Mattes: Ja. Physisch ist die Ära Gaddafis abgelaufen. Aber in den Köpfen der Menschen wird er ideologisch noch länger nachwirken. Das, was Gaddafi seit 1973 in seiner "Dritten universalen Theorie" ("Das Grüne Buch", Anm.) entwickelt hat, wurde ja tagtäglich über die staatliche Propagandamaschinerie verbreitet. 80 Prozent der libyschen Bevölkerung wurden ja unter ihm sozialisiert und sind von ihm geprägt.

derStandard.at: Warum hat die Gaddafi-Front nach dem Eingreifen der Nato noch so lange gehalten?

Mattes: Die bewaffneten Oppositionstruppen waren am Anfang natürlich schwach und undiszipliniert und hatten nicht genügend Waffen zur Verfügung. Es bedurfte erst Ausbildungsmaßnahmen und Waffenlieferungen. Auf der anderen Seite konnten die Gaddafi-loyalen Streitkräfte auf hohe Waffenvorräte zurückgreifen, die erst langsam Zug um Zug durch die Nato ausgeschaltet wurden. Ohne die Nato hätten wir diese Entwicklung auf alle Fälle nicht gehabt.

derStandard.at: Wird sich die Nato zurückziehen, sobald der Konflikt militärisch beendet ist?

Mattes: Es kann sein, dass die Nato noch in den Kampf um das Hauptquartier Gaddafis eingreift. Aber im Prinzip ist ihre Mission erfüllt, denn die Resolution 1973 machten den Schutz der Zivilbevölkerung zur Aufgabe der Nato. Dieser Aspekt ist hinfällig, sobald das Land von den Oppositionsgruppen kontrolliert ist.

derStandard.at: Welche Interessenslagen werden nach einer Entmachtung Gaddafis aufeinander prallen?

Mattes: Viele. Es wird darauf ankommen, wie der Nationale Übergangsrat letztendlich operiert und sich formiert und wie viele Gruppen sich dabei benachteiligt fühlen werden. Eine der Hauptbruchlinien ist sicher der historische Gegensatz zwischen Osten und Westen. Ist der Übergangsrat eher von Ostlibyern dominiert, werden sich die Westlibyer, die zwei Drittel der Bevölkerung ausmachen, übergangen fühlen. Der zweite Gegensatz ist der zwischen Säkularismus und religiösem Einfluss, der auch mit dem Ost-West-Gegensatz zu tun hat. Durch die historische Präsenz der Sanussi-Bruderschaft (eine sufistisch-islamische Bruderschaft, die zwischen 1843 und 1969 großen Einfluss in Libyen hatte, Anm.) ist der Osten stärker religiös geprägt. Die islamistische Bewegung ist nicht umsonst im Osten entstanden. Im Westen sind die Menschen säkularer eingestellt und auch das Gaddafi-Regime war säkular geprägt. Deswegen wurde er ja von Islamisten als "Ketzer" gebrandmarkt.

Dann existiert noch der Gegensatz zwischen Republikanern und Monarchisten. Es gibt nicht wenige in der Cyrenaika (Ostlibyen, Anm.), die wieder ein monarchisches Staatsmodell begrüßen würden (das Königreich Libyen existierte von 1951 bis 1969, als es durch einen Putsch unter Muammar al-Gaddafi abgeschafft wurde). Das ist in Gesamtlibyen nicht durchsetzbar. Weitere ungeklärte Fragen: Staatskapitalismus versus privater Marktwirtschaft, die Rolle der Minderheiten, also der Berber, die Rolle der Religion im Staat und die Rechte der Frauen. Bei einer derart großen Anzahl ungeklärter Aspekte werden die Libyer mit heftigen internen Auseinandersetzungen rechnen müssen.

derStandard.at: Ist eine Spaltung zwischen Osten und Westen ein mögliches Szenario?

Mattes: Noch reden alle von einer Aufrechterhaltung des Staates Libyen. Aber im Extremfall kann das natürlich ein Szenario sein. Wird der Nationalrat zum Instrument der starken ostlibyschen Stämme, dann wird Libyen auch in Zukunft von bewaffneten Auseinandersetzungen geprägt sein.

derStandard.at: Welche Rolle spielt der Ölreichtum in Libyen?

Mattes: Die Überlebensfähigkeit des libyschen Staates in komplett an die Erdöleinnahmen gebunden. Der Übergangsrat wird also alles daran setzen, dass die Produktion wieder in Gang kommt und der Export wieder anläuft. Die Felder liegen in Libyen ziemlich in der Mitte. Werden die Einnahmen vom Übergangsrat nicht gerecht ausgegeben, dann besteht natürlich wieder das Risiko eines bewaffneten Kampfes ums Öl.

derStandard.at: Was wird mit Gaddafi passieren?

Mattes: Wird er getötet, ist das ein Ergebnis. Kann er fliehen, ist das Kapitel in Libyen auch abgehakt. Gerüchten könnte ein Fluchtweg ja über Algerien führen, dann weiter über Mali nach Südafrika. Wird er allerdings verhaftet, ist die Situation eine komplizierte. Der Internationale Haftbefehl wurde von libyscher Seite zwar toleriert. Es gibt aber genügend Personen, die Gaddafi in Libyen selbst den Prozess machen wollen. Das würde Streit mit den Uno-Sicherheitsratsmitgliedern nach sich ziehen. Ein Schauprozess vor Ort würde sicher einige Zeit dauern und könnte den politischen Entwicklungsprozess negativ beeinflussen. Man darf nicht vergessen: Zwar hat die Opposition den Sieg erreicht, es gibt aber in Libyen immer noch genügend Leute, die Gaddafis Sozial-, Rechts- und Frauenpolitik gut fanden. Die werden sich in jedem Fall zu Wort melden. Auch wenn die road map des Übergangsrates die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung vorsieht, die innerhalb eines Jahres eine Verfassung verabschieden soll: in den nächsten zwei bis drei Jahren stehen den Libyer instabile Zeiten bevor.

Die Erfahrungen in Tunesien und Ägypten haben gezeigt, dass solch ein Übergang ein schwieriger ist. In Libyen kommt die Existenz der unterschiedlichen Stämme erschwerend hinzu, und dass es keinerlei Erfahrung mit zivilgesellschaftlichen Organisationen gibt. Es ist also davon auszugehen, dass es noch erhebliche Komplikationen geben wird. (derStandard, Manuela Honsig-Erlenburg, 22.8.2011).