"Er stellt die Kopie dessen nach, was andere als Normalität begreifen, und lebt darin.": Michael Fuith als ganz normaler Täter in Markus Schleinzers distanziertem Filmdrama.

Foto: Stadtkino

Markus Schleinzer (39) ist Autor, Regisseur und Schauspieler. Ende der 1990er-Jahre gründete er eine Casting-Agentur, die u.a. "Der Knochenmann" und "Das weiße Band" betreute. "Michael" ist sein Regiedebüt.

Dem Thema von Kindesmissbrauch und Pädophilie nähert sich Michael, der Debütfilm von Markus Schleinzer, auf eine sehr zurückgenommene, verblüffend sachliche Weise an. Im Mittelpunkt steht ein von außen unscheinbar wirkender Mann (präzis-kontrolliert verkörpert von Michael Fuith), der ein zehnjähriges Kind in seinem Keller gefangen hält. Eine abnorme Situation, über die Schleinzer die Rituale eines kleinbürgerlichen Alltags schichtet: Wolfgang (David Rauchenberger), der Junge, an dem sich der Mann vergeht, ist nicht nur das gut gehütete Geheimnis, sondern integraler Teil von Michaels Welt. Auf dem Festival in Cannes wurde der Film dieses Jahr im Wettbewerb präsentiert - eine seltene Auszeichnung für einen Erstlingsfilm.

STANDARD: "Michael" ist ein Film über einen pädophilen Täter - darin liegt seine Zumutung. Wie weit kann man sich einer solchen Figur überhaupt annähern?

Schleinzer: Beim Schreiben war es eigentlich erschreckend einfach, sich einem Täter wie Michael anzunähern, weil das Verlangen und die Sehnsucht dieses Menschen verständlicher sind als jene anderer Täter. Einen Freddy Krüger werde ich nie verstehen - da geht es auch nur um den Effekt. Außerdem lässt sich das Problem des Voyeurismus eindämmen, wenn man eine Geschichte nicht über das Opfer erzählt. Das Täterbild ist ja von der Boulevardhetze bestimmt, die Pädophile immer verteufelt - diesem Bild wollten wir mit einer distanzierten, nüchternen Inszenierung entgegen wirken.

STANDARD: Was erhoffen Sie sich von einer solchen Blickverschiebung?

Schleinzer: Wenn man Täter nicht zu Monstern macht, sondern sie als Mensch belässt, sind es letztendlich wir, die sich mit dem Phänomen auseinandersetzen müssen. Das kann die Gesellschaft viel weiter bringen. Natürlich gibt es Taten und Situationen im Leben, in denen man nie und nimmer zu seinem Recht kommt. Ich hatte auch beim norwegischen Terroristen Breivik solche Gedanken: Ich dachte, den wird man umbringen; den sollte man umbringen. In Wahrheit gibt es in solchen Situationen kein Recht. Was soll das sein? Das muss man aushalten können.

STANDARD: Breivik ist ein gutes Beispiel dafür, wie schnell Interpretationsmaschinen anlaufen: Jeder fragt sich, wer ist das eigentlich, wie funktioniert der? Das verbindet ihn vielleicht wieder mit Michael.

Schleinzer: Es gibt Dinge, wo das Verständnis aufhört. Das ist auch legitim. Es gibt Formen von Täterschaften, bei denen jede Form der Kommunikation endet. Auch die Empathie verschwindet. Das ist eine Form der Loslösung, eine Waschung eigentlich. Es geht dabei vor allem um Distanzierung - man will etwas wissen, das einem vielleicht weiter helfen würde. Das gibt einem das Gefühl: 'Das ist der da und nicht ich.' Natürlich ist es wahnsinnig schwierig, durch Identifikation an solche Leute herangedrängt zu werden und dann zu sehen: 'Die sind ja so wie ich.'

STANDARD: Sie zeigen eine Normalität in der Nicht-Normalität. Es gibt diese Sehnsucht nach Familie und Zweisamkeit. Wie entwirft man eine solche Normalität?

Schleinzer: Wir teilen nicht alle die gleiche Normalität. Was so ein Mensch macht, ist eine Art synthetische Idylle aufzusuchen. Er stellt die Kopie dessen nach, was andere als Normalität begreifen, und lebt darin. Ich habe mich beim Schreiben gefragt: Wo ist der echte Mensch - im Büro, in dem er so unsichtbar erscheint, wo es sich ja gut leben lässt? Oder ist er es zuhause? Die nachgestellte Normalität blendet das Verbrechen natürlich vollkommen aus. Da bin ich dann den Speisezettel der Wünsche durchgegangen, der mitunter etwas bieder wirkt.

STANDARD: Zugleich steht er aber ungeheuer unter Druck. Ist das nicht eine Situation, die einem Kontrolle und Logistik abverlangt?

Schleinzer: Die Kontrolle ist etwas, das keine Angst macht, solange man glaubt, sie ausüben zu können. Was ich in unsere Gesellschaft beobachte, ist ein Anstieg an Angsterkrankungen, selbst unter Kindern. Das ist ein großes Thema. Hier gibt es nun eine Figur, die sich selbst eine Welt kreiert hat und gottgleich die Kontrolle hält. Indem er das Funktionale steigert, versucht er möglicherweise, Angst, Lebensangst zu reduzieren. Er ist in allen Dingen und behält die Kontrolle. Das Kind ist die Ohnmacht. Es muss das tun, was man sagt und das macht zufrieden. Da es bei diesen Krankheiten auch um eine verquaste Sicht auf Pädagogik geht, hat der Täter auch das Gefühl, dass es gut ist, was er tut. Es gibt Menschen, die sexuelle Kontakte als einen Teil von Pädagogik verstehen.

STANDARD: Dann beginnt jedoch der Aufstand der Dinge - wie in einem Thriller läuft etwas schief.

Schleinzer: Natürlich, weil sich das Leben sich nicht kontrollieren lässt. Wahrscheinlich ist mein Film da sogar romantisch. Aber die Handlung von Michael wird ja nicht von irgendeinem Maigret gelöst. Der geschlossene Raum, die Beziehung zwischen dem Kind und dem Mann hat mich so sehr interessiert, dass es damit beginnt, davon erzählt und darin endet. Sonst wäre es ein Märchenfilm geworden.

STANDARD: Jetzt beweist er sogar Humor: Es hat eine eigene Form von Kläglichkeit, wie dieser Alltag nicht aufrecht zu erhalten ist. War Ihnen das wichtig?

Schleinzer: Das ist etwas, was ich liebe. Das Unperfekte verbindet uns ja alle. Wir sind alle Descheks in dieser Welt. Bei mir ist die Essenz erschreckend banal. Dieser Täter ist kein Künstler. Bei vielen Tätern, die ich recherchiert habe, haben die Opfer nie überlebt. Das ist dann vielleicht Teil ihrer Kunst. Marc Dutroux, der war vielleicht eine Art Künstler: Er hat sich über alles erhoben und mit diesem Kerker etwas geschaffen. Sich über etwas hinwegzusetzen und das Material nur nach eigenem Willen zu bearbeiten: Das ist ein grauenvoller Gedanke. Bei mir gab es keine Kunst.

STANDARD: In Cannes wurde der Film unter der heimischen Marke des Miserabilismus gebucht. Fühlt man sich da, bei aller Ehre, auch ein wenig missverstanden?

Schleinzer: Das muss man hinnehmen. Ich habe mich schon gefragt, ob mich das stört, dass der Film unter „le film scandale" promotet wird, weil wir das eben nicht sind. Er kann da ja nur enttäuschen. Den Kopf brauche mir aber nicht auch noch zu machen. Da habe ich genug Fleisch. Ich finde das eigentlich amüsant. Ich habe gerade ein Email aus Melbourne bekommen, mit der Frage, was wir eigentlich im Trinkwasser haben. Österreich brauche dringend wieder einmal eine singende Nonne oder eine Neuauflage der Trapp-Familie. Oder einen Kindergarten-Cop, der keine Kinder im Keller versteckt.

STANDARD: Sie haben unter anderem eng mit Michael Haneke in "Das weiße Band" mitgearbeitet. Hat Sie das ästhetisch geprägt?

Schleinzer: Das ist ambivalent, ich glaube, dass wir alle von Ästhetiken beeinflusst sind: Das nennt man dann Geschmack. Andererseits hängt viel von der Geschichte ab, und ich glaube nicht, dass man da von einem Branding sprechen kann. Mein nächster Film muss nicht zwingend wieder so aussehen, es war für diesen Stoff die zwingende Erzählvariante. Ich hätte auch sonst keine andere Form gefunden, wie das Publikum auf diese Figur zugehen kann. Filme macht man nicht allein. Ich hab mir ein Team gesucht, dass meine Sicht teilt. Kathrin Resetarits, die Co-Regie gemacht hat, hat mich sehr unterstützt. Ich wusste, es gibt einen schmalen Grad von Geschmacklichkeit, und den gilt es zu treffen.

STANDARD: Michael Fuith liefert als Michael eine so mutige wie großartige Darstellung ab. Wie hat die Zusammenarbeit ausgesehen?

Schleinzer: Michael war von Anfang an sehr ehrlich. Er hat zuerst gesagt, er müsse sich beraten, weil er als Unbekannter die Sorge hatte, dass er von dieser Rolle nicht loskommt. So etwas ist selten: Die Vernunft zu sagen, das ist mir zu steil, hab ich im Casting-Prozess selten gehört. Wir haben uns ein dreiviertel Jahr lang getroffen, um einzelne Motivationen durchzugehen. Er hat dann für sich entschieden, dass er Michael nicht in einer Figur spielen kann. Er hat sie in fünf verschiedene Figuren aufgesplittet.

STANDARD: Gleich in fünf? Wie hat er das erklärt?

Schleinzer: Er hat eine gute Buchhaltung für sich gefunden. Ich habe ihn wirklich gequält, es ging ja um's Eingemachte: Ich habe ihm gesagt, Geilheit kannst du nicht wirklich spielen, das bist du oder nicht. Dabei hat ihm etwa diese Abspaltung sehr geholfen. Es war auch wichtig, nach bestimmten Dingen nicht zu fragen. Wo er das herholt, geht mich ja nichts an. Da wir sehr lange in diesen Räumlichkeiten, im Keller gedreht haben, wo es auch diese Körperlichkeit und Nacktheit gab, war es uns auf der anderen Seite sehr wichtig, dass es Diskretion gibt. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD - Printausgabe, 31. August 2011/Langfassung)