New York - Die einen erzählen immer wieder von ihrer dramatischen Flucht aus dem World Trade Center. Die anderen sprechen überhaupt nicht mehr davon, wie sie der Terror damals heimsuchte. Überlebende der Al-Kaida-Anschläge in den USA vor zehn Jahren gehen sehr unterschiedlich mit ihren Erfahrungen um, viele leiden an posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS). Nach wie vor haben Psychiater mit der Bewältigung der Folgen von 9/11 alle Hände voll zu tun. Belastbare Langzeitstudien offenbaren das Ausmaß der psychischen Belastungen für weite Teile der Bevölkerung.

So stürzten, als die Ostküste kürzlich von einem Erdbeben erschüttert wurde, viele Menschen in New York aus ihren Hochhäusern. "Oh mein Gott, schon wieder ein Bombenanschlag, was ist los?", seien ihre ersten Gedanken gewesen, erzählt Jacob Ham, der ein Programm zur Stressbewältigung am Beth Israel Medical Center in Manhattan leitet, über seine Patienten. Viele Betroffene zeigten PTBS-Symptome, ohne sie zu verstehen: "Sie reagieren körperlich und werden panisch."

Untersuchung der Langzeitfolgen

Posttraumatische Belastungsstörungen sind unkalkulierbare Angstzustände, die manchmal direkt, manchmal auch Jahre nach einer bedrohlichen Erfahrung auftreten können. Patienten erleben etwas als reale Gefahr, obwohl ihr Leben nicht gefährdet ist. Den New Yorker Behörden zufolge leiden oder litten mindestens 10.000 Feuerwehrmänner, Polizisten und Zivilisten als Folge der Anschläge an PTBS. Bei weiteren 61.000 Menschen sei es "wahrscheinlich", dass sie in den Jahren nach 2001 Symptome zeigten. Gerade erst startete eine dritte große Studie zum Zustand der Betroffenen - mittlerweile ist laut Ham genug Zeit vergangen, um Langzeitfolgen zu untersuchen.

Psychische Störungen müssen nicht zwangsläufig auftreten. Doch wer die Anschläge hautnah miterlebte, dessen Leben hat sich für immer geändert. Noch heute schießen Chris Hardej die Tränen in die Augen, wenn er von seiner Flucht aus dem 87. Stock im Nordturm des World Trade Center erzählt. Wie er sich durch schwarzen Rauch im Treppenhaus schlug, wie er Feuerwehrmänner umherkraxeln und danach nie wieder sah. Wie er Stimmen folgte und dann endlich lebend im Freien stand. Und an die "unheimliche Stille" erinnert sich Hardej, nachdem der Turm in einem Inferno aus Flammen und Rauch eingestürzt war. Wie viele Betroffene leidet er bis heute unter Atemproblemen. Jede Woche geht er zum Ground Zero, erzählt Besuchern seine Geschichte, und versucht so, das Erlebte zu bewältigen.

Auswirkungen auf die gesamte US-Bevölkerung

John William Codling wiederum konnte jahrelang überhaupt nicht über den 11. September 2001 reden. Damals arbeitete er als Broker, er verlor 50 Kollegen bei den Attentaten. "Zehn Stunden am Tag habe ich mit ihnen zusammengearbeitet, wir waren uns alle sehr nah", erzählt der 35-Jährige. Nach den Anschlägen verließ er New York, zog zu seinen Eltern und erlitt am ersten Jahrestag einen Nervenzusammenbruch. Wie ein Zombie sei er in der ersten Zeit herumgelaufen, und statt über das Erlebte zu sprechen, phantasierte er darüber, Terrorchef Osama bin Laden zu töten. Das hielt er auf Gemälden fest, zwei Ausstellungen zeigte er bereits.

Experten gehen davon aus, dass die Anschläge ihre Auswirkungen auf die Befindlichkeit der gesamten US-Bevölkerung hatten. "Das Volk wurde aus Disneyland herauskatapultiert", sagt der Psychologe G. Scott Morgan von der Universität Drew im Bundesstaat New Jersey. "Die Anschläge bedeuteten das Ende des Gefühls der Unverwundbarkeit und der Freiheit der Amerikaner." Die PTBS-Expertin Roxane Cohen Silver von der Universität von Kalifornien beschreibt es so: "Die Anschläge haben unser gesellschaftliches Gefüge zerstört."

Das hat auch die Krankenschwester Beth Faitelewicz zu spüren bekommen, die mit ihrer Familie nahe Ground Zero wohnt. Ihr Mann erkrankte an PTBS. Und obwohl sie versucht, stark zu sein, wurde sie in die Krankheit mit hineingezogen. "Wenn einer in der Familie betroffen ist, sind alle betroffen." (APA)