Neue Technologie bringt alte Zähne zum Sprechen: Dieses 1927 entdeckte Oberkieferfragment aus England stammt von einem modernen Menschen und ist bis zu 44.000 Jahre alt. 

Foto: Chris Collins und Torquay Museum

London/Wien - Bis jetzt lautete die Geschichte der menschlichen Besiedlung Europas in etwa so: Vor rund 40.000 Jahren drang der moderne Mensch aus Afrika über den Nahen Osten nach Europa vor. Der Homo sapiens besetzte in der Folge den bisherigen Lebensraum des Neandertalers, der rund 10.000 Jahre später ausstarb. Das einzige Problem: Die ältesten Knochenfunde des modernen Menschen waren bloß 32.000 Jahre alt.

Doch diese Geschichte galt nur bis gestern. Ab heute muss sie anders erzählt werden. Denn neue Analysen von prähistorischen Zähne, die man vor einiger Zeit in England und in Italien gefunden hat, bargen eine anthropologische Sensation: Die Beißerchen stammen nämlich erstens nicht von Neandertalern, sondern von modernen Menschen und sind zweitens viel älter, nämlich bis zu 45.000 Jahre alt. Damit muss nicht nur die Geschichte der Migration des Homo sapiens, sondern auch die seiner Koexistenz mit dem Neandertaler neu geschrieben werden.

Doch alles der Reihe nach: 1927 fand man in der Tropfsteinhöhle Kent's Cavern im Südwesten Englands einen prähistorischen Oberkiefer mit drei Zähnen. Bislang ging man davon aus, dass er von einem Neandertaler stammte. Doch nach neuen Analysen mittels Computertomografie (CT) und Radiokohlenstoff gehen Chris Stringer und Thomas Higham im Fachblatt "Nature" (online vorab) davon aus, dass der ehemalige Inhaber des Gebisses ein moderner Mensch war, der vor 41.000 bis 44.000 Jahren in England lebte.

Noch ein wenig älter dürften zwei Milchzähne sein, die man 1964 in der Grotta del Cavallo (Apulien) fand und die bislang ebenfalls einem Neandertaler und der sogenannten Uluzzian-Kultur zugeschrieben wurde. Ein Team um Stefano Bernazzi (Uni Wien) und Katerina Douka (Uni Oxford) kommt - ebenfalls nach CT- und C14-Analysen und ebenso in "Nature" (online) - zum Schluss, dass auch diese Milchzähne einem Menschenkind gehörten, das vor 43.000 bis 45.000 Jahren starb.

Klar ist somit, dass diese beiden Zähne die ältesten Funde moderner Menschen in Europa sind, so Benazzi. "Damit war auch die Koexistenz mit den Neandertalern länger als bisher angenommen." Weiterhin unklar ist allerdings, wie diese Koexistenz aussah - und weshalb sie zu Ende ging. (tasch/DER STANDARD, Printausgabe, 3. 11. 2011)