"Er sucht nach irgendetwas und redet viel, aber er schafft am Ende gar nichts": Faust (Johannes Zeiler, unten) und der mephistophelische Geldverleiher (Anton Asadinsky) - ab Freitag im Kino. 

Foto: Polyfilm

Seziert Männerschicksale: Alexander Sokurow.

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 Der russischen Regisseur zum Gespräch über groteske Körper, verzerrte Perspektiven und Goethes Wohnverhältnisse.

Wien/Berlin - Am Anfang von Faust gleitet die Kamera über eine Modelllandschaft aus Bergen und Meer, sie nähert sich einer Stadt, ein harter Schnitt unterbricht ihren Flug, darauf folgt ein Close-up auf ein schrumpeliges Körperteil. Nach ein paar Sekunden begreift man: Es ist ein Penis, und noch ein wenig später: Der Penis gehört einem Toten, der seziert wird. Ein Hautlappen klappt Richtung Kamera, bevor die sich ein wenig zurückzieht, sodass man mehr von der Szene sieht. Faust (Johannes Zeiler) und sein Schüler Wagner (Georg Friedrich) wuseln um die Leiche herum und debattieren über die Frage, wo die Seele ihren Sitz hat. Im Kopf? Im Herzen? Oder doch eher in den Füßen?

Diese Eröffnung legt nahe, dass Alexander Sokurows in Venedig mit dem Goldenen Löwen prämierte Filmversion von Goethes Faust wenig Ehrfurcht aufbietet. Der Regisseur will von den großen, bedeutungsschweren Fragen, von Gut und Böse, von Gott und Teufel nichts wissen. Die Figuren bewegen sich in verstellten, engen Räume, die Proportionen sind verzerrt, die Farbigkeit der Welt ins Graugrüne verschoben. Sokurows Interesse gilt unwillkürlichen Gesten, vergeblichen Bemühungen und der daraus resultierenden, sanft-grotesken Komik, sein Faust ist eine seltsam amorphe Fantasie.

Standard: In Ihrem Film "Moloch" schwärmt Hitler davon, in der Ukraine Brennnesselfelder zu pflanzen, in "Faust" nimmt der Titelheld ein Brennnesselfußbad. Zweimal Brennnesseln - Zufall?

Sokurow: Das ist natürlich kein Zufall, eher ein Witz, den wir uns gestattet haben. Brennnesseln wurden damals in Deutschland als Naturheilmittel verwendet.

Standard: "Moloch", Ihr Film über Hitler, steht am Anfang einer Tetralogie, "Faust" am Ende. Vermutlich sind Brennnesseln nicht das einzige, was die Filme teilen?

Sokurow: Es geht um Männerschicksale, um Männer, die behaupten, sie wüssten, wie sie alle Völker der Welt glücklich machen können. Lenin, Hitler und auch Faust - der wollte irgendwelche Städte errichten und alle glücklich machen, aber was daraus geworden ist, wissen wir ja. Wir folgen Leuten, die sagen, sie wüssten, was zu tun ist, aber sie wissen es gar nicht.

Standard: Gleich am Anfang Ihres "Faust" landet man auf einem Seziertisch, später geht es immer wieder um körperliche Bedürfnisse, ums Essen, um den Stuhlgang. Warum steht das Körperliche so sehr im Vordergrund?

Sokurow: Weil es um lebendige Menschen geht, keine Helden, die Gedanken produzieren und keinen Leib haben. Es geht um Leute, die von leiblichen Bedürfnissen getrieben werden. Goethe hat sich ja für Fausts Kopf interessiert, für seine Gedanken, für alles andere nicht. Aber wir sprechen hier von Film: Wir brauchen etwas Filmisches.

Standard: Wie entsteht der Körper des Mauritius, der bei Ihnen an die Stelle des Mephistopheles tritt - mit Ringelschwänzchen am Rücken?

Sokurow: Eigentlich hatte ich in ihm etwas Geschlechtsloses gesehen, es kommt gar nicht darauf an, ob das Schwänzchen oben, hinten oder vorne ist. Er experimentiert mit sich, er sucht sich, der hat keinen maskulinen Antrieb in seinem Leben, er hat einfach zu viel von allem. Ein bisschen viel an den Hüften, ein bisschen viel an den Beinen, und dann noch völlig unmotiviert die Flügel, die er sich einbildet - er ist ja kein Engel.

Standard: Zu diesem grotesken Körper passen die Räume und die Bewegungen der Figuren darin - die drängeln sich oft in Winkeln und Gängen, schieben sich zu dritt, viert, fünft in eine Ecke. Warum?

Sokurow: Als ich das erste Mal Goethes Haus in Weimar besucht habe, habe ich solche Ecken und Winkel entdeckt. Er hat dort wohl in ziemlich ärmlichen Verhältnissen gewohnt, obwohl er Minister war. Und das findet sich im Film wieder - ich habe mir vorgestellt, dass die Leute in Deutschland damals so gelebt haben, außerdem haben wir sehr genau recherchiert. Zuerst hat man den Hauptteil des Hauses gebaut, dann Boden dazugekauft und angebaut, und so kam's, dass ein Fenster, das ursprünglich ein Außenfenster war, auf einen Korridor ging.

Standard: In fast allen Ihren Filmen arbeiten Sie mit verzerrten Proportionen. Was steckt dahinter?

Sokurow: Das kommt von der Malerei des 19. Jahrhunderts, die ich sehr liebe und in Film umzuwandeln versuche. Alle Maler arbeiten mit flachen Flächen, eine Leinwand ist eben flach, auch im Kino. Trotzdem versuchen alle, dieser Fläche eine Dimension hinzuzufügen. Ich möchte dieses Spielchen gar nicht spielen.

Standard: Und weil Sie ein so großer Freund der Malerei des 19. Jahrhunderts sind, sieht Fausts Zimmer wie die Stube aus, in der Spitzwegs armer Poet hauste?

Sokurow: Spitzweg hat den Alltag im 19. Jahrhundert am ausführlichsten beschrieben. Es gab ja weder das Kino noch die Fotografie, und Spitzweg war in allen seinen Bildern sehr präzise, man kann darauf vertrauen, dass es so war, wie er es gemalt hat.

Standard: Warum denn überhaupt das 19. Jahrhundert? "Faust" spielt doch im 16. Jahrhundert.

Sokurow: Wir haben den Stoff einfach umgesiedelt. Der Film spielt im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, denn das ist Goethes Zeit, er müsste dieses Bild gehabt haben.

Standard: Sie haben vorhin gesagt, dass es bei Goethe um Gedanken geht, bei Ihnen um Körper. Im "Faust" von Friedrich Wilhelm Murnau (1926) geht es sehr wohl um den Kampf von Gut und Böse. Sie dagegen treiben Ihrem Film das Metaphysische aus.

Sokurow: Da haben Sie völlig Recht, ich grenze das Metaphysische aus, und zwar, weil man das Metaphysische schwer in Bilder fassen kann, das ist eher etwas für die Literatur. Das Filmische ist eben das Menschliche, unser Faust ist sehr real, sehr leiblich, menschlich, fleischlich.

Standard: Das heißt aber auch, dass Sie eine wesentliche Bedeutungsschicht des Dramas abtragen.

Sokurow: Murnau hat es leichter gehabt, er hat einen Stummfilm gedreht, er musste nicht mit Worten arbeiten. Und eigentlich ist in seinem Film auch kein Goethe zu sehen, da ist ja nur Murnau! Der hat nämlich ein Märchen geschaffen, mit Faust als Greis, mit langem, wallendem Bart, das ist nicht die Figur, die Goethe erdacht hat.

Standard: In der Szene, in der Faust und Wagner die Leiche sezieren, suchen sie nach dem Sitz der Seele und finden ihn nirgends. Nun ist "Faust" die Geschichte eines Mannes, der seine Seele verkauft. Wie kann er etwas verkaufen, das es nicht gibt?

Sokurow: Das ist eine schwierige Frage. Faust selbst hat auch nicht ganz begriffen, ob zum Beispiel Margarete eine Seele hat oder nicht. Aber wer weiß, möglicherweise hat Wagner die Seele aufgespürt, immerhin hat er den Homunkulus erschaffen, leider stirbt dieser Homunkulus, und wir wissen nicht, ob er eine Seele hatte. Vielleicht ist Wagner der wirkliche Gelehrte. Und Faust ist einfach nur ein Demagoge. Er sucht nach irgendetwas und redet viel, aber er schafft am Ende gar nichts. (Cristina Nord, DER STANDARD/Printausgabe 11. Jänner 2012)