Catherine Trautmann im Gespräch mit STANDARD-Korrespondent Thomas Mayer.

Foto: Mayer/STANDARD

Ihr Mitbewerber Hannes Swoboda bleibe "unter den Fittichen" des künftigen Parlamentspräsidenten Martin Schulz, meint Catherine Trautmann.

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Catherine Trautmann oder Hannes Swoboda: So lautet das Match bei Europas Sozialdemokraten um den Chefsessel in der Fraktion im Europäischen Parlament, wenn der Deutsche Martin Schulz am Dienstag in Straßburg zum Parlamentspräsidenten gewählt wird. Im Gespräch mit dem Standard erläutert die französische EU-Abgeordnete, langjährige Bürgermeisterin von Straßburg und frühere Kulturministerin (1997 bis 2000) unter Premierminister Lionel Jospin ihre Ziele und Beweggründe.

Die Sozialdemokratie stecke in einer tiefen Vertrauenskrise, weil sie "die Menschen, für die wir uns engagieren und uns bei den Wahlen ihr Vertrauen geschenkt haben, nicht geschützt haben". Der dritte Weg, das Schlagwort vom Sozialliberalismus habe ihre Partei viel Zustimmung gekostet. Eine Stärkung sei aber nur möglich, wenn die Ideen von Europa und von der Sozialdemokratie zusammengeführt werden. Über die deutsch-französische Zusammenarbeit zeigt Trautmann sich besorgt, ebenso über die Lage der Demokratie in Ungarn: "Es gibt ein Abbröckeln."

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Standard: Warum wollen Sie Fraktionschefin von 180 sozialdemokratischen Abgeordneten im Europaparlament werden?

Trautmann: Mein erstes Motiv ist die Situation in Europa, die Krise. Man muss dabei an seinen Überzeugungen sehr stark festhalten, muss Einfallsreichtum demonstrieren, was Lösungen angeht, und im politischen Kampf entschlossen sein. Für mich ist das eine Herausforderung von derselben Natur wie auf nationaler Ebene, aber langfristig betrachtet noch viel bedeutender. Was auf nationaler Ebene auf dem Spiel steht, ist zentral auch für die Linke in Frankreich. Ich werde meinen Teil dazu beitragen. Ich bin unter anderem durch die Entdeckungen in meiner Stadt Straßburg und in meiner eigenen Familie politisch geprägt worden, durch Spaltungen.

Standard: Durch den alten Konflikt dies- und jenseits des Rheins, die Feindschaft zwischen Deutschen und Franzosen?

Trautmann: Entscheidend ist heute die Notwendigkeit des gemeinsamen Europa. Das ist ja heute fast zu einer Frage der Bequemlichkeit geworden. Die Union wird nicht mehr als Ziel betrachtet. Für mich geht es darum, Europa erneut als Ziel ins Auge zu fassen, in einer Perspektive, die Europa eigen ist und auf Solidarität gegründet ist. Diese Solidarität wird momentan mit Füßen getreten. Das alles gilt auch in Hinblick auf die Vorbereitung auf 2014.

Standard: Da finden dann die nächsten Europawahlen statt.

Trautmann: Ja. Eine politische Fraktion ist ein Werkzeug. Sie muss organisiert sein, muss sich weiterentwickeln, muss offen sein, um demokratischer zu sein, um mehr das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Delegationen aus den verschiedenen EU-Ländern zu beachten. Ich will im Dienst eines kollektiven Projekts stehen. Meine Kandidatur ist nicht durch Anerkennung in einer bestimmten Funktion motiviert. Ich habe viele Funktionen ausgeübt.

Standard: Ich bin etwas überrascht, dass Sie Europa als ersten Grund nennen, und nicht das Ziel, die sozialistische Idee zu stärken.

Trautmann: Das eine und das andere steht für mich ganz auf einer Stufe. Um die europäische Idee zu verstärken, muss man die Sozialdemokratie erneuern. Man muss das zusammenführen.

Standard: Sind Sie einverstanden mit der Diagnose, dass die Sozialdemokratie in Europa derzeit in einer tiefen Krise steckt?

Trautmann: Absolut.

Standard: Warum?

Trautmann: Wir sind in einer Situation des Misserfolgs, wirtschaftlich und sozial. Wenn unsere Analyse richtig ist, wird uns Sozialdemokraten vorgeworfen, die Menschen nicht genug geschützt zu haben, für die wir uns engagieren und die uns bei den Wahlen ihr Vertrauen geschenkt haben. Es gibt eine politische Vertrauenskrise, ganz einfach. Wenn es darum geht, für ein besseres Leben zu sorgen, dann verlangt man von uns nicht nur, dass wir gute Verwalter sind, sondern vor allem Politiker, die die ganz konkrete Lage der Menschen verstehen und in Betracht ziehen. Da gibt es große Spaltungen in der Sozialdemokratie. Es fehlt an einer wirtschaftlichen und sozialen Strategie. Dieser Mangel ist uns teuer zu stehen gekommen.

Standard: Die französischen Sozialisten sind seit mehr als zehn Jahren weg von der Macht. Wie kam es dazu aus Ihrer Sicht?

Trautmann: Als wir in Europa die Mehrheit hatten und in vielen Regierungen vertreten waren, da gab es viele Debatten über den dritten Weg und über andere Wege, die wurden als antimodernistisch betrachtet. Die, die Erfolg hatten, das waren die Modernen. Man hat das schreckliche Wort vom Sozialliberalismus als Leitbild erfunden. Heute versuchen wir ganz einfach Sozialdemokraten zu sein.

Standard: Und der dritte Weg?

Trautmann: Ich war damals beim Labour-Parteitag (nach dem Wahltriumph von Tony Blair). Man hat dort gesagt: „the better way", wir gehen den besseren Weg, den dritten Weg. Das hat mir damals gut gefallen. Suchen wir ihn gemeinsam. Diesmal kann man sich aber in der europäischen Sozialdemokratie nicht erlauben, getrennt zu handeln. Für mich als Französin ist eines ganz wichtig: Wir haben 2005 eine der größten Schwierigkeiten verursacht in der Debatte um den Verfassungsvertrag für Europa mit einem Nein, für das eine Mehrheit in Frankreich votierte.

Standard: Die SP war gespalten, ein großer Teil der Partei rief dazu auf, mit Nein zu stimmen, um den Konservativen innenpolitisch zu schaden.

Trautmann: 2012 sollten wir unseren positiven Beitrag liefern, auch wenn wir die Lage nicht allein verändern können. Ich denke, dass 2012 mit den französischen Wahlen die Möglichkeit gegeben ist, sich für eine politische Vereinbarung der Sozialdemokraten in Sachen Europa zu engagieren. Es gibt die Möglichkeit, eine neue Etappe zu eröffnen, vor der SPD in Deutschland, wo 2013 gewählt wird, vor anderen Parteien. Durch die Dänen wurde uns eine neue Chance gegeben. Es gibt für mich keine großen und kleinen Länder, auch keinen Unterschied zwischen Gründungsmitgliedern und anderen, jetzt sind wir alle in der Krise, und ich bin nicht für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten.

Standard: Im Norden, in Deutschland, in Finnland, spielt man gerne mit dem Gedanken von Kerneuropa.

Trautmann: Das Risiko ist das Auseinanderbröckeln. Ich habe mich diesbezüglich engagiert, als ich Bürgermeisterin in Straßburg wurde und ins europäische Parlament kam, das war 1989, im Jahr des Mauerfalls. Da habe ich mich eingesetzt für die neuen Länder, die Gemeinwesen der neuen Abgeordneten. Ich habe über Gesetzesentwürfe gearbeitet, über Kooperationsprogramme, habe selber welche vorgeschlagen.

Standard: Sie kommen ja aus der Kommunalpolitik, übrigens wie Ihr wichtigster Gegner um den SP-Fraktionsvorsitz, Hannes Swoboda. Kann es sein, dass die Europapolitik zu abgehoben ist, den Bürgern eben nicht sehr nahe?

Trautmann: Politik muss, egal auf welcher Ebene, auf der Basis des Lebens der Menschen beurteilt werden. Ich habe das in der Fraktion erklärt: Der Leitfaden ist das Leben der Menschen. Wenn man auf europäischer Ebene über große Investitionen diskutiert, zum Beispiel im Transportwesen, wenn man über die Effizienz der Energie diskutiert, über die nachhaltige Entwicklung, das sind Entscheidungen, die Folgen haben für das Leben heute und in der Zukunft. Aber die Jugendbeschäftigung, die Beschäftigung der Arbeitslosen, die älteren Menschen, die Gleichberechtigung von Männern und Frauen bei der Beschäftigung, das alles ist heute die erste Herausforderung für die Sozialdemokraten. Was ist für mich die wichtigste Arbeit in diesem Jahr? Das ist einerseits, eine bessere und ausgewogenere, gerechtere Lösung als Antwort auf die Krise zu finden. Die Sparmaßnahmen allein genügen nicht, man muss eine Antwort bringen mit einem System der Verwaltung der Schulden, sodass die Schwierigkeiten für unsere Länder nicht noch größer werden, sondern wir sie noch mehr entlasten können, ohne die notwendigen Anstrengungen zu vermeiden.

Standard: Die deutsche Kanzlerin erklärt dazu, dass es einfache Lösungen aus der Krise aber nicht gibt.

Trautmann: Ich teile nicht die Position einer Angela Merkel, aber ich verstehe auch, dass jeder sich anstrengen muss, auch mein eigenes Land. Und wir sind dazu bereit. Aber wir brauchen auch Solidarität, also finanzielle Lösungen, für die Schulden, aber auch die soziale Frage darf eben nicht vergessen werden. Man wird zusammenbrechen in meinen Augen, wenn es solche Unterschiede gibt wie zwischen Frankreich und Deutschland. Das sage ich als jemand, der aus diesem Grenzgebiet kommt. Aber wir arbeiten in dieser Grenzregion momentan auch an Maßnahmen, die das ausgleichen, damit man ermöglicht, die Arbeit gemeinsam zu verwalten. Es ist klar, dass es in Deutschland nicht genug Lohn- und Gehaltsempfänger, nicht genug Arbeitnehmer gibt, nicht genug Angebot, wir dagegen haben Arbeitslose. Wie soll man das angehen? Man muss Wege finden zu den Arbeitsplätzen.

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Standard: Der Figaro hatte jüngst die Schlagzeile, dass die Franzosen um sechs Wochen weniger arbeiten als die Deutschen. Man hat derzeit den Eindruck, dass ganz Europa sich Deutschland als Vorbild nimmt, ist das ein richtiges Phänomen?

Trautmann: Man muss alles in Betracht ziehen. Ich für meinen Teil spreche von einer Freundschaft im Wettbewerb mit Deutschland, ich habe immer so reagiert. Auf der einen Seite bin ich von der deutsch-französischen Kooperation überzeugt, engagiere mich dafür als starke Befürworterin. Ich habe das Glück gehabt, mit wunderbaren Leuten zusammenzuarbeiten. Auf diese Weise habe ich Europa gelernt, im Austausch. Dabei musste ich über die damalige Sicht meiner Familie ein bisschen hinauswachsen, in der Nachkriegszeit. Ich bin 1951 geboren. Es war kompliziert. Meine Großmutter hat gesagt, du sollst nicht Deutsch lernen, und auch nicht Elsässisch, weil das auch vorüber ist. Einige sagen mir heute, Sie sprechen ja nicht Deutsch, trotz Ihres Namens. Ich bin auch ein Produkt der Geschichte. Auf meinem Gymnasium wurde man benachteiligt, wenn man Elsässisch gesprochen hat.

Standard: Ich dachte bisher auch, dass Sie Deutsch sprechen.

Trautmann: Nein.

Standard: Ein häufiger Irrtum von uns Deutschen oder Österreichern ist, dass wir glauben, im Elsass sprechen fast alle Deutsch.

Trautmann: Es ergibt sich aus einem bestimmten Zusammenhang. Das erkläre ich immer sehr einfach, und niemals ist mir deshalb jemand böse gewesen, denn alle wissen, dass die Lage damals nach dem Krieg schwierig war.

Standard: Zurück zu den deutsch-französischen Beziehungen. Haben Sie den Eindruck, das die derzeit gut funktionieren, oder werden die Unterschiede eher größer?

Trautmann: Nein, ich glaube, wir entfernen uns voreinander, ehrlich, man entfernt sich. Ich bin Merkel und Nicolas Sarkozy sehr böse wegen einer Gemeinsamkeit, die sie haben: Das ist bei beiden das Infragestellen des europäischen Modells, der Gemeinschaftsmethode. Um über die Tatsache hinwegzutäuschen, dass sie sich schlecht verstehen, haben sie eine Art Direktorium installiert, eine Art Zweierführung, das ärgert mich. Für mich besteht die deutsch-französische Verantwortung darin, die europäische Solidarität zu koordinieren und voranzutreiben, Lösungen vorzuschlagen.

Standard: Auch die europäischen Institutionen zu stärken?

Trautmann: Wir wissen, dass wir verschiedenartig sind, aber wenn man gemeinsam eine Lösung sieht oder auch nur vorschlägt, hat man schon einen Teil des Weges zurückgelegt. Denn wir haben große Unterschiede bei der Strategie. Ich habe momentan noch eine lokale Verantwortlichkeit. Ich bin für die wirtschaftliche Entwicklung zuständig, arbeite mit kleinen und mittleren Unternehmen zusammen, auch mit großen. Ich kenne also die Unterschiede zwischen dem deutschen Modell, den Kapitalstrukturen in den kleinen und mittleren Unternehmen, und dem französischen Modell. Die Tatsache, dass es da Unterschiede gibt, die Arbeitskosten, darüber kann man endlose Debatten führen. Wir haben ein anderes soziales System. Weder die Deutschen noch die Franzosen wollen eine vollkommene Anpassung aneinander. Aber für mich ist das nicht das Problem, dass man verschiedene Modelle hat. Das Problem ist die Verbindung, die Kompatibilität, und was in meinen Augen heute von Nachteil ist, das ist die Betonung der Unterschiede. Französische Unternehmer sagen mir, die deutschen Märkte sind mir verschlossen, also gehe ich auf die andere Seite mit meinem Unternehmen. Wenn sie in Frankreich versuchen, die Arbeitsplätze zu schützen, dann klagen die Deutschen über Protektionismus. So verschwindet Europa. Man muss es anders machen, so wie BMW es gerade tut, indem sie eine Zusammenarbeit mit Peugeot suchen. Es gibt einen Wettbewerb über das Fahrzeug der Zukunft. Da ist interessant, wenn man die Gemeinsamkeiten sucht, die Pluspunkte der beiden Länder zusammenführt, um dann innovativ vorwärts zu gehen. Das hätte man vorschlagen müssen.

Standard: Die Regierungen beteuern aber doch ständig ihren Willen zur europäischen Wirtschaftsregierung.

Trautmann: Frau Merkel hat zum Beispiel eine Exzellenzinitiative gemacht. Die haben wir in Frankreich kopiert. Warum hat man nicht von Anfang an gesagt, sie sollten uns einladen, wir haben ja Universitäten, die schon gemeinsam arbeiten auf dem Gebiet der nachhaltigen Energien. Warum arbeiten wir nicht gemeinsam zusammen, anstatt sich zum Beispiel in Sachen Atomenergie zu bekriegen.

Standard: Ich möchte Sie einladen, auf das Europaparlament zurückzukommen.

Trautmann: Die Verantwortung der deutschen SPD und der französischen PS nicht nur für die Vorbereitung der Wahlen 2014, sondern für die nächste Periode bis 2019 besteht darin, dass was wir gemeinsam die Ziele vertiefen wollen. Also: Wie kann man die Wirtschafts- und Währungsunion vervollkommnen? Das ist unser wahres Projekt. Das haben wir uns vorgenommen, und es ist nicht einfach.

Standard: Was bedeutet das, wenn Sie zur Fraktionschefin gewählt werden nächste Woche?

Trautmann: Zuerst als Zielsetzung die Einheit der Gruppe. Die Einheit ist der Schlüssel zum Erfolg. Ich denke, dass die Fraktion ein politisches Werkzeug ist. Es braucht ein Ziel, eine Agenda und eine Methode. Zum politischen Ziel: Es geht darum, eine Antwort auf die Krise zu geben, soziale Perspektiven zu eröffnen, aber auch für die Industrie, für die nachhaltige Entwicklung. Man muss die Frage der Arbeitsplätze und des Wachstums beantworten. Und dann die Demokratie, das ist der dritte Aspekt. Man sieht, dass sie heute sehr gefährdet ist, zum Beispiel in Ungarn, in Rumänien, in Bulgarien. Die Krise schafft dafür gute Voraussetzungen. Also hat das für mich absoluten Vorgang, auch für mich als Frau, muss ich sagen. Man weiß es, wenn in Ungarn Rechte und Freiheiten infrage gestellt werden, das betrifft dann in Folge sehr schnell Journalisten, die Medien und die Frauen. Das alles sind Gründe, um sehr aktiv zu sein.

Standard: Wenn Sie an die Beziehungen zwischen den europäischen Institutionen denken, Parlament und Kommission, was ist da zu tun?

Trautmann: Von den europäischen Institutionen ist die Kommission leider sehr schwach. Ich finde sie nicht genug reaktiv und offensiv gegenüber dem Rat der Mitgliedsländer. Im Großen und Ganzen ist heute das EU-Parlament der Ort des Widerstands. Wir sind zornig. Man muss sich nur die Kollegen aller Fraktionen anhören, wegen dem, was man aus unserer Arbeit, unseren Vorschlägen macht im Rahmen dieser intergouvernementalen Abkommen zwischen den EU-Staaten. Die Tatsache dass der Rat etwas beschießt, ohne das Parlament einzubinden, bedeutet, dass er sich dazu entschließen wird, ohne politische Legitimität zu arbeiten. Da muss man aufpassen. Ich glaube nicht, dass man Europa ohne die Völker bauen kann.

Standard: Sie sprechen jetzt vom Fiskalpakt, der die Haushaltsdisziplin zusätzlich verschärfen soll. Wollen Sie den Pakt blockieren?

Trautmann: In der Tat sind die Staaten dabei, uns vorzuzeigen, dass wir keine Rolle spielen, dass wir zu nichts nütze sind und man unsere Meinung nicht braucht. Dann wird ihnen aufzeigen müssen, bei welchen Themen sie uns brauchen. Aber man muss auch wissen, was man will in diesem Parlament. Denn man kann nicht einfach so Nein sagen, wir müssen auch aufbauen. Man braucht einen Dialog mit der Kommission, vertieft.

Standard: Wie würden Sie als Fraktionschefin agieren?

Trautmann: Ich arbeite an einer politischen Agenda, in der alle Wahltermine in allen Ländern der Europäischen Union berücksichtigt werden. Ich werde überall hinreisen. Ich habe vorgeschlagen, dass ein Land pro Monat im Zentrum steht, bis zum Jahr 2014. Kleine, große, alte, neue Länder, alle sollten sich dessen bewusst werden, was jedes Land in der Union bedeutet und darstellt. Zurzeit ist es so, dass jeder sich innerhalb der eigenen Grenzen auf sich selbst besinnt. Ausgenommen die, die Grenzen überschreiten wollen wie Viktor Orbán in Ungarn. Dieses Zusammenziehen, das Bröckeln, dieser Verlust an europäischer Solidarität, das ist es, was ich furchtbar finde.

Standard: Denken Sie an einen gemeinsamen Wahlkampf bei den EU-Wahlen?

Trautmann: Ja, an eine Vorwahlkampagne, mit jeder Partei bei den lokalen oder nationalen Terminen und die Vorbereitung auf 2014.

Standard: Ein gemeinsames Programm?

Trautmann: Ja, mit einem gemeinsamen Programm. Meine Partei hatte mir einen Auftrag gegeben, ich war die Botin des sozialistischen Projekts mit anderen Abgeordneten, nationalen und europäischen, und anderen Mitgliedern der Parteiführung. Wir konnten zwar nicht in alle 27 Länder gehen, weil die Zeit ein bisschen kurz war, aber wir haben die meisten unserer sozialdemokratischen Freunde besucht, um mit ihnen über das, was wir uns vorgenommen hatten, zu diskutieren. Wir müssen Klarheit schaffen beim Gleichgewicht der verschiedenen EU-Institutionen.

Standard: Was unterscheidet Sie von Swoboda?

Trautmann: Meine Erfahrung ist breiter gefächert als die seine, ich hatte verschiedene Verantwortungen auf lokaler Ebene, als Bürgermeisterin in Straßburg, auf nationaler Ebene in der Regierung oder als Abgeordnete. Ich habe alle möglichen Rollen und Aufträge erfüllt. Und ich bin nicht durch einen bestimmten Stil in der Leitung der Fraktion geprägt. Ich habe andere Methoden, die ich schon erprobt habe, von denen ich hoffe, dass ich sie anwenden kann, dass heißt mehr Zusammenarbeit mit den Abgeordneten und mit der Verwaltung der Fraktion.

Standard: Spielen Sie darauf an, dass er bisher schon geschäftsführender Fraktionschef unter Martin Schulz gewesen ist?

Trautmann: Meine Kandidatur ist zu einem Zeitpunkt gekommen, wo niemand sie erwartet hat. Der große Unterschied ist, dass ich nicht in der Nähe des Apparats der Fraktionsverwaltung stehe, also bin ich eine Basiskandidatin sozusagen. Diese Erfahrung eines einfachen Abgeordneten hat mich bereichert. Deshalb habe ich eine andere Sicht. Und Martin Schulz, mit dem ich viel gesprochen habe, weiß das ganz genau. Ich habe nicht dieselbe Auffassung, ich weiß nicht, ob das eine feminine ist. Ich mache auch keine spezifisch weibliche Kampagne, aber ich glaube, dass meine Autorität nicht delegiert ist.

Standard: Sie sind jemand, der mehr für Gleichgewicht sorgt?

Trautmann: Vor allem werde ich nicht wahrgenommen als jemand, der im Fahrwasser des Präsidenten ist. Ich bin nicht die Kandidatin des Präsidenten. Schulz hat seine Aura, seine Bilanz, seine Wirkung hinterlassen mit positiven und negativen Punkten. Im jetzigen Stadium ist der Unterschied von Hannes und mir, dass er unter den Fittichen des Martin Schulz bleibt. Das ist der Unterschied, aber das ist ja keine Feindschaft. Das sind verschiedene Geschichten, Intentionen. Für ihn ist das die Krönung einer Karriere im EP, für mich ist es eine politische Herausforderung in Hinblick auf die kommenden Wahltermine.

Standard: Letzte kleine Frage: Ist es denkbar, dass Sie in die französische Regierung zurückgehen, falls Francois Hollande die Wahlen gewinnt und Staatspräsident wird?

Trautmann: Nein, ich habe es ihm auch schon gesagt. Er weiß es. Es ist eine wichtige Frage, ich habe sie mir auch selbst gestellt, ich habe es gestern vor meinen Kameraden erläutert, denn ich hatte auf ihre Fragen sonst nicht antworten können, die mir aus verschiedenen Delegationen der Fraktion gestellt worden waren. Also habe ich gesagt: Wenn ich die Verantwortung für die Fraktion übernehme, werde ich das erstens unabhängig wahrnehmen. Und zweitens ist es gemessen an unseren Überzeugungen wichtig für uns, dass die Erneuerung der Sozialdemokratie auf europäischer Ebene erfolgen muss. Die Erneuerung des französischen Sozialismus wird auch in diesem Rahmen erfolgen. Es ist ein komplementäres Spiel, ein Spiel, das man wählt innerhalb einer Strategie, die darin besteht, die französischen Sozialisten in das europäische Projekt zurückzuholen. (Langfassung des Interviews aus der DER STANDARD-Printausgabe, 16.01.2012)