Joan Slonczewski: "A Door Into Ocean"
Broschiert, 403 Seiten, Arbor House 1986/Orb Books 2000
Was Neues: Altes. Ich dachte mir, von Zeit zu Zeit könnte ich hier vielleicht doch mal den einen oder anderen antiquarischen Tipp einbauen. Nicht gerade Bücher mit dem Bekanntheitsgrad von "Die Mars-Chroniken"/"Dune"/"Neuromancer"/"Accelerando", die eh schon alle gelesen haben - aber vergleichbar Gutes, das bloß nicht ganz so bekannt ist. Zum Beispiel Joan Slonczewski, eine fantastische SF-Autorin aus den USA, von der bislang - Shame! - nur ein Buch ins Deutsche übersetzt worden ist, und das ist ein Sachbuch. Nach längerer Pause hat sie 2011 mit "The Highest Frontier" endlich wieder einen Roman veröffentlicht, aber hier soll es um ein älteres Werk gehen. Slonczewski ist eine Uni-Professorin für Mikrobiologie, die nebenbei SF-Kurse abhält - und eine Quäkerin. All das spiegelt sich in dem 1986 erstveröffentlichten "A Door Into Ocean" wider. Und zeigt im Vergleich mit Brenda Cooper, um wieviel mehr das Genre Planetary Adventure hergeben kann.
Mit dem ersten Werk aus ihrer lose verbundenen Future History "Elysium" versetzt uns Slonczewski in eine ferne Zukunft, in der die Zeit der interstellaren Expansion schon lange vorbei ist. Die Gründer des Sternenreichs der Menschheit sind verschwunden, doch unter dem religiös verbrämten Banner des Patriarchen hat sich eine neue übergreifende Ordnung etabliert. Und zwar mit harter Hand: Wenn der Gesandte der zentralen Maschinenwelt Torr - ein Androide - durchs All tourt, gehen unbotmäßige Städte oder auch gleich ganze Welten in Rauch auf. Aktuell macht er in einem System Station, das von zwei sehr unterschiedlichen Kulturen bewohnt wird. Der Planet Valedon ist Sitz einer auf Bergbau ausgerichteten Feudalgesellschaft - die Wasserwelt Shora hingegen wird ausschließlich von Frauen bewohnt, die sich parthenogenetisch vermehren. Ihre Lebensweise und ihre Meisterschaft als natürliche Gen-Ingenieurinnen sorgen auf Valedon (wie offenbar auch im fernen Torr) für Unruhe. Doch wird die Angst vor angeblichen biologischen Waffen auch instrumentalisiert, um die Ressourcen Shoras ausbeuten zu können. Die Invasion der Wasserwelt beginnt - und stößt auf eine Form des Widerstands, die man auf Valedon schlicht nicht begreifen kann.
Valedon und Shora bilden ein Paar größtmöglicher Gegensätze. Die sich selbst als Sharer bezeichnenden pazifistischen Bewohnerinnen Shoras leben dezentral und hierarchielos auf organischen Flößen. Entscheidungen werden stets kollektiv getroffen, die gesamte Gesellschaft betrachtet sich als Teil der planetaren Ökologie. Währenddessen herrscht auf Valedon wie vermutlich im gesamten Machtbereich des Patriarchen (der Name kommt nicht von ungefähr) gewissermaßen tiefes Kali-Yuga. Ausbeutung, Macht- und Gewinnstreben und vor allem Furcht bilden den Leim, der die Gesellschaft zusammenhält. Ein subtiles Detail unterstreicht die Bedeutung der Perspektive: Rein kosmologisch müsste eine der beiden Nachbarwelten der Mond der anderen sein, doch verschleiert Slonczewski die Verhältnisse. Shora wird auf Valedon als Ocean Moon bezeichnet, während es umgekehrt Stone Moon heißt.
Die Kategorie feminist utopia ist in der Praxis ja eher Kassengift, aber davon sollte man(n) sich wirklich nicht vom Lesen abhalten lassen. Die Hinterfragung von Gender-Identitäten, feministische Aspekte und das Aufeinandertreffen utopischer und vergleichsweise dystopischer Gesellschaften ... Slonczewski wandelt da ganz auf den Spuren Ursula K. LeGuins. Was automatisch zum Begriff "kritisches Utopia" führt, denn auch Shora ist nicht am perfekten Ende einer Entwicklung angekommen, sondern bleibt dynamisch. Und hat seine Schattenseiten. Gewalt ist hier höchstens als Symptom von Geisteskrankheit bekannt, dafür haben die Sharer ein ausgefeiltes System psychologischer Erpressung entwickelt. Das mag manchmal geradezu kindisch wirken - "If you don't finish cleaning up I'm going to sit outside in the rain until you do", sagt die Mutter zur Tochter - und gegenüber schwerbewaffneten Invasoren auch ineffektiv. Immerhin sind Mahnwachen und unspeaking, also die Kommunikationsverweigerung gegenüber bestimmten "Zielpersonen", die harschesten Maßnahmen der Sharer. In der Praxis stellt dies die Invasoren aber vor ungeahnte Probleme, wie man mit größtem Vergnügen lesen kann.
Der Sharer-Widerstand mag an den einstigen Weg Indiens aus der Kolonialherrschaft erinnern - doch hier gibt es keinen Gandhi, der die Methoden des Gegners durchschaut, im Gegenteil. Sharer und Valans bleiben füreinander rätselhaft: Die Sharer wissen nicht, ob sie die gewalttätigen Invasoren als Kinder, Geisteskranke oder überhaupt als Menschen einstufen sollen. Während die Valans wiederum schwer an der Weltsicht des sharing zu kauen haben, von der die Bewohnerinnen Shoras ihren Namen herleiten. Slonczewski versteht es in brillanter Manier, eine fremde Denkweise samt deren sprachlichen Konsequenzen anschaulich zu machen. Subjekt und Objekt sind für die Sharer eins, da beide an einer gemeinsamen Situation teilhaben: Spinel thought over the list of "share-forms": learnsharing, worksharing, lovesharing. "Do you say 'hitsharing', too? If I hit a rock with a chisel, does the rock hit me?" "I would think so. Don't you feel it in your arm?" [...] "I've got it: if Beryl bears a child, does the child bear Beryl? That's ridiculous." "A mother is born when her child comes." - Die Unterschiede zwischen den beiden Kulturen sorgen für Missverständnis um Missverständnis. Was komisch ist, etwa wenn eine tödliche Drohung vom Gegenüber als angenehme Wendung des Gesprächs empfunden wird. Aber auch tragisch, und letztlich werden Missverständnisse den Ausgang des Konflikts bestimmen. Zu Recht hieß es in einer Rezension, dass Slonczewski Action bzw. Gewalt nicht dramatisieren, sondern nur berichterstatten kann - das ist aber keineswegs als Manko zu werten.
Veranschaulicht wird der Culture Clash anhand eines kleinen Ensembles, das sich aus VertreterInnen beider Kulturen zusammensetzt. Merwen ist eine hochangesehene Sharer, die sich verzweifelt darum bemüht die Menschen Valedons zu verstehen, während ihre rebellische Tochter Lystra sie für immer von Shora vertreiben will. Dreh- und Angelpunkt und der Hauptsympathieträger des Romans ist Spinel, ein Junge aus einem Dorf Valedons, der von Merwen nach Shora eingeladen wird. Spinel nimmt die Rolle des Narren im Sinne des Tarot ein. Er ist ein naiver, von Stimmungen getriebener, aber Unbekanntem gegenüber aufgeschlossener Mensch, der seine neue Welt bereitwillig in sich aufnimmt.
Der adeligen Händlerstochter Berenice gelingt dies trotz heftigen Bemühens nicht annähernd so gut wie ihm, obwohl sie ihre Kindheit auf Shora verbracht hat. Entsprechend der Sharer-Tradition, einen negativ besetzten Beinamen zu wählen, den es ein Leben lang durch Taten zu entkräften gilt, nennt sie sich Nisi the Deceiver und wird an dieser Festlegung noch verzweifeln. Derweil wird ihr Verlobter Raelgar zum Kommandanten der Invasionstruppen ernannt. In einer langen Reihe missverständlicher Psychoduelle mit Merwen radikalisiert er sich immer weiter - doch es ist der Autorin hoch anzurechnen, dass sie keine ihrer Figuren denunziert. Raelgars zunehmende Gewaltbereitschaft entspringt seiner wachsenden Verzweiflung darüber, dass ihm die Situation entgleitet. Seine Taten sind vielleicht nicht zu entschuldigen, aber zumindest nachzuvollziehen.
Genaue Psychologie bei den Hauptfiguren und die Betonung kultureller Aspekte sind typische Merkmale von Soft SF - allerdings verschmilzt Slonczewski sie kongenial mit Hard-SF-Elementen. Wobei Wissenschaft hier Biologie meint: Die Autorin kommt eben vom Fach und entwirft so in allen Einzelheiten ein fantastisches Ökosystem, das von Mikroben, mit denen die Sharer in Symbiose leben, bis zu den kilometerlangen Seaswallowers reicht. Wie armselig wirkt daneben Brenda Coopers Kopie der Erde mit einem halben Dutzend kontextlos ausgedachter Spezies. Bei Slonczewski hingegen haben alle Arten einen Platz im planetenumspannenden Web und spielen darüberhinaus auch alle eine Rolle für die Handlung - das ist Worldbuilding par excellence! Ein komplexer, hochintelligenter und einfach packender Roman, ich kann ihn gar nicht genug empfehlen.