Ein Jahr der vielen Umbrüche: Mathieu Amalric und Jeanne Balibar in Olivier Assayas' "Fin août, début septembre".

 

Foto: Filmmuseum

Neu zur Retrospektive erschienen: Kent Jones (Hrg.): "Olivier Assayas". FilmmuseumSynemaPublikationen, 2012

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Wien - Die erste Abnahme des Filmmaterials endet mit einem Eklat. Der Regisseur stürzt entnervt aus dem Kino, alles sei Schrott; gegenüber seiner chinesischen Hauptdarstellerin, welche die mysteriöse Räuberin Irma Vep verkörpert, wird er schließlich konkreter: Die Bilder seines Remakes von Louis Feuillades Stummfilm-Serie Les Vampires hätten keine Seele, "jedes Bild verweist nur auf ein weiteres Bild." Was fehlt, ließe sich an dieser Stelle ergänzen, ist so etwas wie der Abdruck der Welt und damit eine notwendige Vergegenwärtigung des Motivs.

Wenn man Olivier Assayas' Film Irma Vep aus dem Jahr 1996 heute wieder sieht, erscheint einem die Szene zwischen Jean-Pierre Léaud und Maggie Cheung wie ein Schlüsselmoment zum Werk des französischen Filmemachers. Als Verehrer des Revolutionärs und Theoretikers Guy Debord kennzeichnet auch seine Arbeit eine Skepsis gegenüber Bildern, die wie Waren zirkulieren und nur wieder auf sich selbst verweisen - in einer von zwei neuen Publikationen beschreibt der 1955 geborene Assayas sein persönliches Verhältnis zum Situationismus, zum Erweckungserlebnis des Punk und seiner Post-'68-Sozialisation.

Irma Vep bildet diesen Kampf um ein persönliches Kino in einer von schwierigen Fronten verstellten Gegenwart filmisch ab. Schon über den Hongkong-Star Maggie Cheung, mit dem er auch Clean (2004) drehen sollte - einen inhaltlich verwandten Film um die Zerrissenheit zwischen privaten und künstlerischen Bestrebungen -, öffnet Assayas ein erweitertes, globales Bezugsfeld, in dem sich die Figuren bewegen und bewähren müssen. L'heure d'été erzählt über zehn Jahre später von einer Familie, die an ihrem Erbe, einem alten Sommerhaus, nicht festhält, weil sich die Biografien der einzelnen Mitglieder in alle möglichen Richtungen verzweigen. Seinen Platz in der Welt muss man heute ständig neu definieren.

Das ist schon in den frühen Arbeiten so, auch wenn hier die Grenzen eher zwischen Gruppen und Individuen verlaufen. Vielleicht wird Assayas, der anlässlich der Retrospektive im Filmmuseum bis Sonntag in Wien zu Gast sein wird, beim Gespräch zu Fin août, début septembre (1998) auch über die Unrast und Nervosität seiner Figuren sprechen, über dieses Zuspätkommen und -erkennen, das deren Lebensführung charakterisiert. Es ist dies einer seiner schönsten Filme: Große Themen wie Liebe, Kunst und Tod werden darin mit einer Beiläufigkeit behandelt, die diesen nichts von ihrer Energie nimmt. Dass sich Menschen verpassen, nicht das Entscheidende sagen, aneinander vorbeigehen, ist hier kein erzählerischer Gimmick; der Film besteht einfach auf die Lücken und Leerläufe, aus denen modernde Biografien gebaut sind.

Fließende Räume

Natürlich verdanken sich solche Eindrücke auch einem ausgeklügelten Stil, einer bestimmten Art, mit der Kamera (Denis Lenoir, Éric Gautier) den Raum ins Fließen zu bringen, sodass daraus eine Art emotionale Wahrnehmung entsteht, sowie einer Montage, die bewusst mit Auslassungen arbeitet. Schon im frühen Film L'enfant de l'hiver (1989) sind die Beziehungen zwischen Mann und Frau vertrackte Double-Binds, das Begehren ist auf Abwesenheiten gerichtet. Die Form des Films, seine abrupten Schauplatzwechsel, korrespondiert mit der obsessiven Leichtfertigkeit der Figuren, was an Arbeiten von Philippe Garrel erinnert.

Spannend an diesem Kino ist nicht zuletzt, dass man hier einem Regisseur zusehen kann, wie er sich immer wieder an neuen, objektiven Wirklichkeiten erprobt. Zuletzt hat er sich mit der TV-Serie Carlos (2010) über den gleichnamigen bolivianischen Terroristen auch an einer realen Figur versucht, die nur aus seiner Zeit heraus verständlich wird - ein Held ist dieser Carlos jedoch nur in dem Sinne, als er Posen immer besser einzusetzen versteht. Konträr zum Terroristen als Selbstdarsteller wird Assayas' jüngster Film Aprés-Mai, der in Wien noch nicht zu sehen ist, an die Anfänge des Mai 1968 zurückkehren, zu einem Moment, an dem noch nichts entschieden, alles offen ist.

Assayas bleibt also auf der Suche. Im zur Retrospektive erschienenen Sammelband, den der US-Filmpublizist Kent Jones ediert hat, kann man die Spuren bis zur Gegenwart nachverfolgen. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 12./13.5.2012)