Wien/Boston - "Von der 'Black Box' zur 'Blaupause'." Dieser Satz findet sich in einer Abhandlung der angesehenen Medizin-Fachblatts "The New England Journal of Medicine" zum Thema von 200 Jahren Krebsforschung. Am 28. September startet in Wien der Kongress der Europäischen Gesellschaft für Onkologie (ESMO; bis 2. Oktober). Dabei werden im Austria Center Vienna rund 17.000 Teilnehmer erwartet, welche die neuesten Ergebnisse der Wissenschaft diskutieren. Doch von der Wissenschaft zur erfolgreichen Umsetzung von Erkenntnissen kann es auch lange dauern.

Ein Universalgenie mit einem entscheidenden Beitrag zum Verständnis von bösartigen Erkrankungen war der deutsche Pathologe Rudolf Virchow (1821 bis 1902). 1863 postulierte er nach seinen Beobachtungen unter dem Mikroskop, dass Krebs offenbar etwas mit den Zellen zu tun hat - heute eine Selbstverständlichkeit.

Entdeckung der Metastasen

1889 veröffentlichte der britische Chirurg und Onkologe Stephen Paget (1855 bis 1926) im "Lancet" (ähnlich renommiert wie das New England Journal) einen Artikel, über "die Verteilung von sekundären Geschwülsten bei Brustkrebs". Er hatte erkannt, das bei bösartigen Erkrankungen dem Primärtumor oft Tochtergeschwülste (Metastasen) folgen. Der US-Pathologe Preyton Rous zeigte 1911, dass Viren bei Vögeln Krebs auslösen können. Theodor Boveri, ein deutscher Biologe, konnte nachweisen, dass Chromosomenveränderungen im Hintergrund von bösartigen Erkrankungen stehen können. Die Aufklärung der Struktur der Erbsubstanz DNA durch Francis Crick und James Watson im Jahr 1953 war ein weiterer Durchbruch, doch die Grundlagenforschung war der klinischen Anwendung oft sehr weit voraus.

Das änderte sich, als der US-Präsident Richard Nixon 1971 den National Cancer Act der USA unterzeichnete. Damit wurde den nationalen US-Gesundheitsinstituten aufgetragen: "Unterstützung der Forschung und der Anwendung der Resultate, um die Häufigkeit, die Erkrankungen und die Mortalität durch Krebs zu reduzieren". Der Erfolg, der sich in den darauffolgenden Jahren einstellte: Die Onkologie schritt am schnellsten in den USA voran. Die US-Pharmaindustrie verbuchte in der Umsetzung von Grundlagenforschung eine enorme Entwicklung. Weiterhin richten sich die Onkologen weltweit nach der Jahrestagung der Amerikanischen Gesellschaft für Onkologie (ASCO) aus. Erst in den vergangenen zehn bis 15 Jahren starteten die europäischen Wissenschafter einen deutlichen Aufholprozess.

Die Methoden: Die Chirurgie stand am Anfang der Krebsmedizin. 1809 hatte Epharim McDowell (US-Staat Virgina) erstmals chirurgisch ein Eierstockkarzinom entfernt. Das geschah ohne Narkose! 1894 führte William Halsted (New York/Baltimore) die erste Operation zur Entfernung der weiblichen Brust als Behandlungsstrategie bei Mammakarzinomen durch. Die Entdeckung der Röntgenstrahlen (1895) und des Radiums als potenzielle Strahlenquelle (1898) ebneten den Weg in Richtung Strahlentherapie. 1912 wurde entdeckt, dass man bösartige Tumore bei Mäusen durch Gewebe übertragen kann. Die erste Heilung durch Strahlentherapie gelang bei HNO-Tumoren um das Jahr 1912.

Therapie mit Medikamenten

Die Krebsmedizin setzte auch immer zu neuen Sprüngen an, wenn etablierte Therapien nicht mehr wesentlich verbessert werden konnten. Ein zweiter Punkt: Das Prinzip der Prävention setzte sich nur langsam und mit vielen Hindernissen durch. So gab es schon 1912 eine erste Hypothese, wonach Tabakkonsum mit Lungenkarzinomen in Verbindung zu bringen sei. Doch erst 1964 gab es jenen Bericht des US-Surgeon General, wonach genau das bewiesen sei und man Gegenmaßnahmen treffen müsste.

In den 1950er Jahren konnte man schließlich mit der Kobalttherapie die moderne Strahlenbehandlung etablieren, die immer schonender und zielgenauer wird. Als aber zunehmend erkennbar wurde, dass man mit diesen beiden Behandlungsstrategien nicht noch "besser" werden konnte, setzte die Entwicklung der Chemotherapie ein:

  • 1948 wurden Folsäure-Antagonisten erstmals in der Leukämietherapie eingesetzt.
  • Das heute noch in Verwendung stehende Methotrexat wurde ab 1957 bei gynäkologischen Krebsformen benutzt. Jahrzehntelang - bis jetzt - war es auch ein Basistherapeutikum gegen chronische Polyarthritis.
  • 1976 zeigte eine Studie von italienischen Wissenschaftern, dass eine Kombinationstherapie mit Cyclophosphamid, Methotrexat und Fluorouracil nach der Operation bei Mammakarzinom-Patientinnen einen zusätzlichen Effekt hat.
  • Parallel dazu wurde die antihormonelle Therapie bei Brust- und Prostatakrebs entwickelt. Beide Karzinome sind zumeist - zumindest am Beginn der Erkrankung - von den Wachstumsimpulsen durch körpereigenen Geschlechtshormone abhängig (Östrogen, Testosteron). Die Unterdrückung ihrer Produktion oder die Blockade ihres Effekts wird seit den 1980er-Jahren in der medikamentösen Behandlung mit großem Erfolg benutzt. Während beim Mammakarzinom damit auch Rückfälle verhindert werden können, geht es beim Prostatakarzinom speziell um die Verhinderung des Fortschreitens der Erkrankung. Das Ergebnis dieser Bemühungen zeigte sich beispielsweise in den USA, als erstmals die Mortalität durch Brustkrebs zu sinken begann. Gleichzeitig wurde aber klar, dass auch die Dutzenden Zytostatika und Chemotherapeutika in Kombination mit Operation und Strahlentherapie ihren Entwicklungsplafonds erreicht hatten.

Die moderne Molekularbiologie mit monoklonalen Antikörpern (Produktion für Medikamente etc. ab 1975 möglich) und die Identifizierung von einzelnen Signalwegen, welche in bösartigen Zellen das Wachstum vorantreiben bzw. die Empfindlichkeit für Medikamente und Strahlentherapie herabsetzen, führte schließlich in den vergangenen zur "zielgerichteten Therapie", bei der mit monoklonalen Antikörpern oder mit kleinen synthetischen Substanzen genau diese Signalwege einzeln gehemmt werden können:

  • 1997 wurde mit dem monoklonalen Antikörper Rituximab ein revolutionäres Biotech-Behandlungsprinzip bei B-Zell-Lymphomen zugelassen.
  • Ende August 2000 kam mit dem monoklonalen Antikörper Trastuzumab ("Herceptin") in Europa ein monoklonaler Antikörper auf den Markt, der bei 20 bis 25 Prozent der Brustkrebspatientinnen vor der Operation, nach der Operation und auch bei der Behandlung fortgeschrittener Mammakarzinome mit Metastasen sehr gute Erfolge bringt. Auch Antikörper (z.B. Bevacizumab, "Avastin"), welche die Blutgefäßbildung in Tumoren blockieren, bringen bei verschiedenen Tumorerkrankungen bessere Behandlungsergebnisse.
  • 2006 wurde gezeigt, dass man mit der kleinen und spezifisch auf das BCR/ABL-Gen wirkende Molekül Imatinib die chronisch-myeloische Leukämie dauerhaft beherrschen kann.
  • In jüngster Zeit werden vermehrt nur im Zell-Durchmesser wirkende Strahlenquellen mit Chemotherapeutika chemisch verbunden oder monoklonale Antikörper mit Chemotherapeutika kombiniert. Daraus kann eine relativ nebenwirkungsarme Kombi-Therapie entstehen. Ein Beispiel dafür ist ein Konjugat aus dem monoklonalen Antikörper Trastuzumab und dem Chemotherapeutikum Maytansine bei Brustkrebs.

Die "zielgerichtete Therapie" bei Krebs sorgt aber auch noch für eine andere Revolution: Da Karzinome unterschiedlicher Organe auf zellulärer Ebene Gemeinsamkeiten haben können, kommt der Erstellung eines genetischen Profils des einzelnen Tumors immer mehr Bedeutung zu. Das wird in Zukunft zunehmend die "Wahl der Waffen" gegen Krebs bestimmen.

Die Erfolge der modernen Medizin sind - auch bei regelmäßiger Kritik durch Gesundheitsökonomen - aus den Statistiken ablesbar: 1960 lag in den USA die Fünf-Jahres-Überlebensquote bei 38 Prozent. Derzeit liegt sie bei 68 Prozent. Die Mortalität durch Krebs ist in den Vereinigten Staaten allein seit 1990 um 24 Prozent gesunken. (APA, 20.8.2012)