"Ich verstehe, warum um 1900 Esperanto als gemeinsame Wissenschaftssprache diskutiert wurde", sagt Michael Gordin. Er selbst beherrscht neben Esperanto etliche Sprachen, die die Wissenschaften im Lauf der Geschichte dominiert haben.

Michael Gordin (37) ist Professor für Wissenschaftsgeschichte in Princeton. Er promovierte in Harvard und publizierte seitdem mehrere Bücher vor allem zur Geschichte der Physik in Russland. Er war kürzlich auf Einladung des Doktoratskolleg-Programms "Naturwissenschaften im historischen, philosophischen und kulturellen Kontext" des Wissenschaftsfonds FWF in Wien.

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STANDARD: Englisch ist heute die mit Abstand wichtigste Wissenschaftssprache der Welt. Das war aber nicht immer so?

Gordin: Ganz und gar nicht. Englisch setzte sich erst rund um den Zweiten Weltkrieg als dominante Sprache durch. Von 1850 bis dahin teilten sich Deutsch, Französisch und Englisch ziemlich genau je ein Drittel der Publikationen. Und auch davor gab es meist mehrere Sprachen, in denen sich die Gelehrten austauschten, und nicht nur die eine dominante, wie das heute der Fall ist.

STANDARD: Lässt sich die Rolle von Englisch heute nicht mit der von Latein früher vergleichen, das ja auch lange Zeit die lingua franca der Gelehrten war?

Gordin: Nein, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen ist Englisch ist nicht so "gerecht" verteilt, wie das bei Latein war. Für sehr viele Forscher ist Englisch die Muttersprache, mit der sie aufwachsen. Die meisten anderen müssen es in der Schule erst lernen. Latein im Mittelalter war niemandes Muttersprache. Zum anderen war Latein nicht immer so dominant, wie man heute annimmt. Im Alten Rom etwa sprachen und schrieben viele Gelehrte meist auf Griechisch. Cicero beklagt sich zum Beispiel ständig darüber, dass es für bestimmte griechische Fachausdrücke keine lateinischen Entsprechungen gab.

STANDARD: Das ändert sich dann aber im Mittelalter.

Gordin: Aber auch nicht von Beginn an. Im Frühmittelalter wurde Wissenschaft vor allem auf Arabisch betrieben, in Europa war wissenschaftlich wenig los. Erst mit dem Spätmittelalter und der Renaissance kam es dann zur Wiederentdeckung von Latein, das ab etwa 1200 in weiten Teilen Europas zur Sprache der Philosophen und Forscher wird, die sich so über die Grenzen hinweg verständigen können. Das ändert sich dann aber wieder Mitte des 17. Jahrhunderts

STANDARD: Was war der Grund dafür?

Gordin: Eine wichtige Rolle kam Galileo Galilei zu. Seine ersten Texte schrieb er um 1610 noch auf Lateinisch, um 1630 verfasste er bereits alles auf Italienisch.

STANDARD: Warum tat er das?

Gordin: Darüber gibt es eine lange Debatte. Als ein Grund wird sein Widerstand gegen die Macht der Kirche genannt sowie sein Wunsch, in der Sprache des Volkes zu schreiben, wie das etwas Bert Brecht in seinem Drama nahelegt. Wahrscheinlich ist das aber nicht ganz richtig, denn die wenigsten Menschen konnten damals lesen. Wichtiger war wohl, dass sein Publikum - also reiche Kaufleute und Adelige - meist nur schlecht Latein konnten.

STANDARD: Wie reagierten die anderen Wissenschafter des 17. Jahrhunderts?

Gordin: Sie schlossen sich der Abkehr von Latein an, die über Kontinentaleuropa auch England erreichte. Descartes schrieb auf Latein und Französisch, Newton verfasste die Principia mathematica 1687 noch auf Latein, sein zweites Hauptwerk Opticks 1704 hingegen schon auf Englisch. Das hatte vor allem mit einer Veränderung des Publikums zu tun: Man wollte nicht mehr nur mit anderen Gelehrten in fernen Städten kommunizieren, sondern auch mit jenen in der eigenen Umgebung.

STANDARD: Welche Folgen hatte die Rückbesinnung auf die eigene Sprache?

Gordin: Am Beginn des 18. Jahrhundert schrieben Wissenschafter in Europa auf Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch, Schwedisch und Niederländisch, einige wenige auf Spanisch. Gegen 1850 sind die kleinen Sprachen inklusive Latein verschwunden, und es bleiben als Kompromiss Deutsch, Französisch und Englisch als die drei Sprachen der Wissenschaft in Europa übrig.

STANDARD: Was ist mit Russisch?

Gordin: Gute Frage. Russland war der größte Staat mit einer wachsenden Zahl von Wissenschaftern. Die schrieben zuerst auf Deutsch und Latein, ab etwa 1870 aber auf Russisch. Ihre Arbeiten waren so wichtig, dass man sie im Westen nicht ignorieren konnte, was ihre Kollegen dort etwas nervös machte. Denn was würde passieren, wenn auch die Forscher in Japan, in Ungarn oder in Portugal in ihrer jeweiligen Sprache zu publizieren begännen? Eine unmögliche Sprachenvielfalt wäre die logische Folge, und Wissenschafter wären vor allem mit dem Erlernen von Fremdsprachen beschäftigt. 

STANDARD: Wie wollte man dem entgehen?

Gordin: Es gab damals ernsthafte Überlegungen, sich gemeinsam auf eine einzige Wissenschaftssprache zu einigen. Aber es schien ausgeschlossen, dass das Deutsch, Französisch oder Englisch sein könnte - wegen der Widerstände der jeweils beiden anderen Sprachenvertreter. Eine andere Option war die Wiederbelebung von Latein oder Griechisch. Die galten aber als zu schwierig, und außerdem hätte man für all die neuen wissenschaftlichen Begriffe neue lateinische oder griechische Ausdrücke erfinden müssen. Es gab da aber noch eine dritte Alternative, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ernsthaft diskutiert wurde.

STANDARD: Was meinen sie damit?

Gordin: Kunstsprachen wie Volapük oder Esperanto, die damals neu erfunden wurden. Man dachte dass die erstens leichter wären und zweitens gerechter, weil sie alle Wissenschafter lernen mussten. Das scheiterte aus mehr oder weniger zufälligen Gründen: Zum einen, weil mit Ido, einer Weiterentwicklung von Esperanto, die Esperanto-Bewegung in zwei Lager zerfiel. Zum anderen kam der Erste Weltkrieg dazwischen - und in seinem Gefolge ein allmählicher Trend hin zum Englischen, der vielfältige Ursachen hatte.

STANDARD: Was waren die wichtigsten?

Gordin: Das hatte vor allem wirtschaftliche und politische Hintergründe. Die US-Industrie und auch die Forschung boomten in der Zwischenkriegszeit, während in Deutschland beides darniederlag. Deutschland war außerdem politisch benachteiligt: Deutsche Forscher wurden für einige Jahre von internationalen Tagungen ausgeschlossen, wo entsprechend Französisch oder Englisch gesprochen wurde. Durch den Aufstieg des Nationalsozialismus kommt es zu einer weiteren Verschiebung hin zum Englischen: Immer weniger Studenten aus den USA reisten nach Deutschland, zum anderen emigrierten viele jüdische Wissenschafter in die USA und publizieren danach natürlich auf Englisch.

STANDARD: Wie war dann die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg?

Gordin: Englisch und Russisch werden auf Kosten von Deutsch und Französisch zu den beiden wichtigsten Wissenschaftssprachen während des Kalten Kriegs. Das Verhältnis ist etwa zwei Drittel Englisch, 20 Prozent Russisch, der Rest ist Deutsch und Französisch. Das führt zu weiteren Selbstverstärkungsprozessen zugunsten von Englisch, zumal Wissenschafter in der USA viel weniger Sprachen lernen als vorher. Was aber auch zu Problemen führte.

STANDARD: Nämlich?

Gordin: 1950 wurde klar, dass 20 Prozent der Fachpublikationen in Chemie auf Russisch verfasst wurden, das aber nur einer von 1000 US-Forschern verstand. Man versuchte es zuerst mit Russischkursen, die aber nicht sehr erfolgreich waren. Dann investierte man in erste automatisierte Übersetzungsprogramme, woran auch IBM beteiligt war. 1954 machte man ein erstes Experiment mit einigen Sätzen aus einem chemischen Fachtext und hofft, dass man in fünf Jahren soweit ist. Wie wir alle wissen, funktioniert das heute mehr als ein halbes Jahrhundert später immer noch nicht.

STANDARD: Wie hat man das Problem gelöst?

Gordin: Eine Firma begann 1949, sämtliche Artikel der wichtigsten sowjetischen Chemie-Zeitschrift zu übersetzen und bot die Übersetzung zur Subskription an. Diese Übersetzungen waren ein internationaler kommerzieller Erfolg. Im Jahr 1960 wurden von dieser und anderen Firmen bereits 85 sowjetische Fachzeitschriften vollständig ins Englische übersetzt, insgesamt rund 35.000 Seiten pro Jahr. Das machte man 40 Jahre lang und war das größte und teuerste Übersetzungsunternehmen in der Geschichte der Wissenschaft. Es trug aber auch dazu bei, dass Englisch nur noch dominanter wurde.

STANDARD: Wir haben bisher vor allem über die Naturwissenschaften gesprochen. Auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften gibt es diesen Trend hin zum Englischen. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Gordin: Ambivalent. Offensichtlich ist, dass man längst auch in diesen Fächern Publikationen auf Englisch braucht, um international sichtbar zu sein. In den skandinavischen Ländern oder den Niederlanden hat man sich daher viel früher als in Deutschland oder Österreich entschieden, auch in diesen Fächern auf Englisch zu publizieren. Darin liegt aber auch ein Spannungsverhältnis: Denn als Universitätslehrer wird man mit Steuergeld bezahlt und sollte daher auch in der jeweiligen Landessprache kommunizieren, zumal wenn es um Forschungsarbeiten über die eigene Geschichte oder soziale Fragen des eigenen Landes geht. Ich möchte mit meinem Projekt über die Sprachen der Wissenschaft jedenfalls zeigen, dass mit der Sprache auch ernste politische und ethische Fragen verbunden sind - auch wenn ich darauf nicht immer eindeutige Antworten habe.

STANDARD: Kann sich die Dominanz von Englisch wieder ändern, zumal China sich anschickt, die führende Wissenschaftsnation der Welt zu werden?

Gordin: Das ist schwer zu sagen. Geopolitische und forschungspolitische Veränderungen wie der Aufschwung Chinas können sich natürlich auch in Verschiebungen der Sprachhegemonie niederschlagen. Ich denke aber nicht, dass Englisch irgendwann einmal durch das Chinesische ersetzt werden wird. Man darf dabei nicht vergessen, dass die Wissenschafter auch die bisher publizierten Texte lesen wollen. Und lange, nachdem nicht mehr auf Lateinisch geschrieben wurde, konnten die Gelehrten immer noch Latein, um die alten Texte lesen zu können.

STANDARD: Apropos Latein: Sie beherrschen etliche der Sprachen, über die wir bis jetzt geredet haben inklusive Esperanto. Im Moment lernen Sie Latein. Warum?

Gordin: Ich denke, dass es unverantwortlich wäre, an einem Projekt über Sprachen der Wissenschaft zu arbeiten, ohne Latein zu können. Man stelle sich vor: Bis 1850 mussten Dissertationen in Russland auf Lateinisch verfasst werden, auch der Mathematiker Carl Friedrich Gauß publizierte Anfang des 19. Jahrhunderts noch auf Latein. Dadurch eröffnet sich für einen Wissenschaftshistoriker eine ganz neue Welt. Außerdem wollte ich Lukrez im Original lesen. Und schließlich verstehe ich dadurch viel besser, warum um 1900 Esperanto als gemeinsame Wissenschaftssprache diskutiert wurde: Esperanto ist so viel leichter als Latein! (Klaus Taschwer, DER STANDARD, 22.8.2012)