"Die Scheinheiligkeit der Kommissare in Brüssel ist abgrundtief", sagt Jean Ziegler. Mehr Bilder von seinem Wien-Besuch finden Sie in Cremers Photoblog.

Foto: Matthias Cremer

"Ein Buch muss eine Waffe sein für den Aufstand des Gewissens", sagt Jean Ziegler. Wie weit ein Aktivist zuspitzen darf und was die Todsünde der Agrarpolitik ist, erzählte er im STANDARD-Interview Tobias Müller.

STANDARD: Was halten Sie von diesem Satz: "Es ist ein Unsinn, dass durch E10 der Hunger verschärft wird"?

Ziegler: Das ist eine total unsinnige und faktenwidrige Aussage.

STANDARD: Das Zitat stammt von Österreichs Umweltminister Nikolaus Berlakovich.

Ziegler: Auf einem Planeten, auf dem alle fünf Sekunden ein Kind verhungert, wo eine Milliarde Menschen schwerstens unterernährt sind - da hunderte Millionen Tonnen Nahrungsmittel zu verbrennen ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

STANDARD: Ihre Gegner werfen ihnen vor, zuzuspitzen. Wie weit darf man dabei gehen?

Ziegler: Es gibt ein Stück von Bertolt Brecht, "Die Gewehre der Frau Carrar", und da steht ein Satz drin, an den denke ich fast jeden Tag. Die Frau Carrar hat einen Sohn im Krieg und sagt zu den Kämpfern: "Seid vorsichtig!" Und einer der Genossen antwortet: "Vorsicht, Frau Carrar, hilft den Armen nicht." Ein Buch, das keine Namen nennt, das keine Strukturen freilegt, hat keine Sprengkraft. Ein Buch muss eine Waffe sein für den Aufstand des Gewissens. Ich kann auch soziologische Traktate schreiben, aber das wäre total sinnlos.

STANDARD: Unter Ihren Hauptgegnern sind vor allem Nahrungsmittelspekulanten. Viele Wissenschafter meinen aber, dass Spekulationen vom Umfang her gar nicht in der Lage sind, Preise so steigen zu lassen. Haben die alle Unrecht?

Ziegler: In den vergangenen zwölf Monaten hat sich der Preis der Tonne Weizen am Weltmarkt verdoppelt, Mais ist um 63 Prozent gestiegen, Reis um 31 Prozent. Diese astronomischen Preiserhöhungen töten. Natürlich wird der Preisanstieg ausgelöst durch ein außerbörsliches Ereignis, etwa die Dürre in den Vereinigten Staaten. Aber der Spekulant steigt ein und beschleunigt den Prozess.

Morgen früh könnte aber das österreichische, deutsche, französische Parlament das Börsengesetz ändern: Nichtproduzenten und Nichtverbraucher sind von Spekulationen auf Lebensmittel ausgeschlossen. Punkt. So einfach wäre es, Millionen Menschen zu retten. Jetzt können sie sagen: Der Ziegler redet zugespitzt, aber es ist einfach so.

STANDARD: Es ist aber nicht so, dass die meisten Politiker Menschen absichtlich verhungern lassen ...

Ziegler: Nein. Die Leute sind ja nicht blind oder böse. Die sagen: Hunger ist schrecklich, aber er kann nicht bekämpft werden durch normatives Eingreifen in den Markt, sondern nur dadurch, dass der Markt noch mehr befreit wird. Diese Aussage ist aber eine Lüge. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben die kapitalistischen Finanzoligarchien die Welt erobert.

STANDARD: In den vergangenen Jahren ist aber auch der Hunger stark zurückgegangen, seit 1970 hat sich der Anteil der Menschheit, der unterernährt ist, halbiert.

Ziegler: Wenn Sie den Bevölkerungszuwachs vergleichen mit dem Zuwachs an Unterernährten, dann fällt die relative Zahl, aber die absolute Zahl steigt. Und jedes Kind, das an Hunger stirbt, ist eine singuläre Katastrophe. Fortschritte gibt es nicht, die Konzernherrschaft wird arroganter. Ich gebe ihnen ein Beispiel: Kurz vor dem G8-Gipfel hat Sarkozy verkündet, dass Frankreich als Gastland vorschlagen wird, dass die G20 eingreifen gegen die Börsenspekulationen auf Grundnahrungsmittel, sie reduziert oder ganz verbietet. Drei Wochen später, beim Gipfel, ist nichts gekommen, keine Diskussion, nichts.

Dazwischen hatten die Konzerne interveniert, im Elysee, in der Downing Street, im Weißen Haus. Man kann ja Sarkozy gern haben oder nicht, aber er ist der gewählte Präsident der zweitwichtigsten Wirtschaftsmacht dieses Kontinents. Und geht in die Knie. Das zeigt die Relation. Wir leben unter der Weltdiktatur der Finanzoligarchien, die haben eine Macht, wie sie nie ein Kaiser oder Papst gehabt hat. Die Normativkraft des Nationalstaats, des demokratischen Rechtsstaats, die schmilzt wie ein Schneemann im Mai.

STANDARD: In den kommenden Monaten werden die EU und die USA ihre Agrarpolitik neu regeln. Was müsste da geändert werden?

Ziegler: Die Todsünde sind die Exportsubventionen. Auf jedem afrikanischen Markt können Sie Gemüse, Früchte oder Geflügel aus der EU kaufen, zur Hälfte oder zu einem Drittel des Inlandspreises. Ein paar Kilometer weiter steht der afrikanische Bauer, rackert sich ab und hat nicht die geringste Chance auf ein Existenzminimum. Die Scheinheiligkeit der Kommissare in Brüssel ist abgrundtief. Sie produzieren den Hunger in Afrika, und wenn dann ein paar Hungerflüchtlinge an die Grenze Europas kommen, werden sie mit militärischen Mitteln zurückgeworfen. Die europäischen demokratischen Werte, die machen an der Grenze des Kontinents halt, und das entkräftet den moralischen Führungsanspruch der Europäer total.

STANDARD: Sie haben vorher über den sinkenden Einfluss von Nationalstaaten gesprochen - all diese Mechanismen, die Sie kritisieren, werden von Nationalstaaten unterstützt oder erst ermöglicht.

Ziegler: Weil die neoliberale Wahnidee bis in die sozialdemokratisch regierten Staaten vorgedrungen ist. Die Globalisierung hat jetzt 21 Jahre gedauert, die Ultraliberalisierung des Kapitalverkehrs ist durch die Technik verschärft worden, die Produktionskräfte haben sich gesteigert ...

STANDARD: ... und an vielen Orten ist der Wohlstand enorm gestiegen.

Ziegler: An einigen Orten. Vor allem aber haben die Finanzoligarchien unglaubliche Macht erlangt und die Leichenberge im Süden steigen. Da kann ja was nicht stimmen.

STANDARD: Sie haben einmal gesagt, was Sie antreibt, sei der Zorn. Sind Sie zorniger als andere Menschen?

Ziegler: Nein, ich bin ein glücklicher Mensch.

STANDARD: Der Zorn ist also weg?

Ziegler: Es ist mehr als Zorn. Es ist die Absurdität. Wenn man die mörderische Unvernunft dieser Weltordnung sieht, weiß man: Sie muss radikal bekämpft werden. (Tobias Müller, DER STANDARD, 27.9.2012)