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Heidi Kastner glaubt nicht an eine Welt ohne Verbrechen: "Wenn jemand denkt, dass eine Gesellschaft von allen suspekten und deklariert kriminellen Elementen 'gesäubert' werden kann, dann träumt er von warmen Eislutschern im Dezember."

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In "Schuldhaft. Täter und ihre Innenwelten" beschreibt die Gerichtspsychiaterin die Lebensgeschichten von zehn straffällig gewordenen Menschen.

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In ihrem aktuellen Buch "Schuldhaft. Täter und ihre Innenwelten" erzählt Heidi Kastner die Lebensgeschichten von zehn straffällig gewordenen Menschen. Sachlich und nüchtern berichtet die Gerichtspsychiaterin über "ihre Fälle". Manche hatten katastrophale Startbedingungen, andere wuchsen in scheinbar intakten Familienverhältnissen auf. Allen gemeinsam ist: Sie fanden durch unterschiedliche Ereignisse und Konstellationen bedingt keine anderen Ausweg als Mord, Totschlag, Raub oder Betrug.

derStandard.at: Warum haben Sie dieses Buch geschrieben?

Kastner: Hauptsächlich deshalb, weil ich mit dem "ganz großen Bösen", das sich in den aufsehenerregenden Fällen manifestiert, relativ wenig anfangen kann. Denn die entsprechen keineswegs der überwiegenden Mehrzahl an Delikten. Das Gros der Verbrechen sind - banal ausgedrückt und vielleicht etwas respektlos klingend - "kleinere Geschichten".

Die Gefängnisse sind nicht voll mit offensichtlich auffälligen Typen, sondern mit Leuten, die nicht so viel anders sind als jene, die man außerhalb trifft. Diese "Normalität des Verbrechens" in dem Sinn, dass sich unauffällige oder nicht sonderlich auffällige Menschen bei passender Konstellation zu Tätern entwickeln können, hat mich interessiert.

derStandard.at: Was wollen Sie den Lesern mitteilen?

Kastner: Dass die sogenannte Normalität kein Schutz vor Delinquenz ist. Es können wahrscheinlich viele Menschen in gewissen Situationen zu Tätern werden, von denen man sich das vorher nie gedacht hätte. Das heißt, vielleicht ist man selbst auch nicht ganz frei von der Möglichkeit, einmal delinquent zu werden.

derStandard.at: Was bedeutet für Sie "normal"?

Kastner: Normalität konstituiert sich in einem gesellschaftlich konsensuell festgelegten Regelwerk, wobei sich "Normalitätsgrenzen" über soziale Entwicklungen auch verschieben können. Das Bild, das wir von Straftätern haben, lautet: Es handelt sich um einen Menschen, der anders ist als wir. In dem Sinn "Wer so etwas tut, der muss ja gestört und krank sein". Aber so gestört, wie wir uns das gerne vorstellen, sind diese Leute eben oft nicht.

derStandard.at: In der Fachliteratur gelten "Broken Home"-Verhältnisse und schwierige Eltern-Kind-Beziehungen als weitgehend gemeinsamer Nenner von Straftätern. Gibt es Indikatoren, die kriminelles Verhalten begünstigen?

Kastner: Solche Befunde gibt es. Die Krux daran ist, dass das nur in eine Richtung feststellbar ist. Der Großteil Inhaftierter weist zwar keine idealen Primärfamilienbedingungen auf, es gibt jedoch genug Leute aus problematischen Herkunftsfamilien, die ihr Leben lang nicht straffällig werden. Man kann also nicht sagen‚ vier Fünftel aller Leute aus "Broken Home"-Verhältnissen werden delinquent.

derStandard.at: Welche Befunde gibt es noch?

Kastner: Was praktisch alle Straftäter in meinem Buch aufweisen, ist ein massiv erhöhter Selbstbezug, der unter dem Deckmantel vieler Störungen zu finden ist. Solche Menschen halten sich für den Nabel der Welt. Sich selbst für so grandios und wichtig zu nehmen, dass alles andere den eigenen Belangen untergeordnet wird, ist eine ganz große Gemeinsamkeit - weit mehr als "Broken Home"-Verhältnisse.

derStandard.at: Wie kann der Strafvollzug adäquat auf Inhaftierte eingehen?

Kastner: Es ist vermutlich sinnlos, alle Inhaftierten nach dem Gießkannenprinzip intensiv therapeutisch zu betreuen. Ideal wäre eine Differenzierung in Täter, bei denen hauptsächlich die Persönlichkeit das Delikt bewirkt hat, und in solche, bei denen hauptsächlich die Umstände zur Tat geführt haben. Das heißt, es ist danach zu trennen, wie weit das Motiv in der Persönlichkeit, in der Situation oder aber in beidem liegt.

derStandard.at: Was bedeutet das konkret für den Strafvollzug?

Kastner: Je mehr eine Tat persönlichkeitsmotiviert ist, desto problematischer ist die Person und umso kritischer muss man die Prognose sehen. Besonders solche Täter sollten therapeutisch erreicht werden. Es hat keinen Sinn, deliktpräventive Therapiegruppen für einen Menschen einzurichten, der sich beispielsweise immer wieder mit seiner Frau gestritten hat, und beim letzten Streit schlägt sie auf ihn ein, er schlägt zurück, sie fliegt hin und ist tot. In solchen Fällen brauche ich nicht wirklich lange therapeutisch zu intervenieren.

derStandard.at: In der "Fußfesseldebatte" rund um einen Sexualstraftäter in Salzburg hat sich gezeigt, dass erhebliche Teile Bevölkerung und besonders Boulevardmedien nicht gerade zimperlich sind, wenn es darum geht, straffällig gewordene Menschen an den öffentlichen Pranger zu stellen. Sollte sich eine Gesellschaft nicht auch auf andere Art und Weise für ihre Verbrecher zuständig fühlen?

Kastner: Wenn wir einigermaßen intelligent wären und wirklich etwas für unseren Schutz tun würden, dann müssten wir berücksichtigen, dass die meisten Straftäter nach Strafende entlassen werden und es einen massiven Einfluss auf die prognostischen Faktoren hat, wie wir diesem Menschen dann begegnen. Wenn er uns als ablehnende Mauer wahrnimmt, dann sieht er möglicherweise überhaupt keinen Grund, sich zum Wohle dieser Mauer rechtschaffen zu verhalten.

Der Vertrag, den die Gesellschaft mit dem Rechtsbrecher schließt, beeinflusst ja maßgeblich, wie er dann weitertut. Und wenn ich jetzt einen Vertrag schließe, bei dem ich sage: "Wir fordern alles von dir, liefern aber gar nichts", dann ist das einseitig, und einseitige Verträge halten und funktionieren nicht. Das sind Knebelverträge, und die führen selten zu einer guten Compliance.

derStandard.at: Was halten Sie von der Utopie "Eine Welt ohne Verbrechen"?

Kastner: Das ist ein völliger Blödsinn. Wenn jemand denkt, dass eine Gesellschaft von allen suspekten und deklariert kriminellen Elementen "gesäubert" werden kann, dann träumt er von warmen Eislutschern im Dezember. Das ignoriert auch, dass es grundmenschlich ist, Grenzen zu überschreiten und auch Grenzen des anderen zu überschreiten.

Nicht umsonst gibt es Verhaltenskodizes von Anbeginn der Überlieferungen an. Nichtfreundliche Anteile sind ja in jedem Menschen zu finden. Deshalb ist es auch ein unrealistisches Wunschdenken, zu sagen: "Man kann das jetzt freiräumen, und dann hat man die saubere, deliktfreie Gesellschaft." Das ist naiv, blind und ziemlich realitätsfremd.

derStandard.at: Kann es überhaupt Verbrechensprävention geben?

Kastner: Es kann keine gezielte, aber sehr wohl eine allgemeine Prävention geben. Idealerweise setzt diese möglichst früh an und besteht aus einer tauglichen Erziehung, die Kinder zu sozialisierten Wesen heranwachsen lässt. Und zwar zu solchen, die andere Menschen auch wahrnehmen. (Günther Brandstetter, derStandard.at, 8.10.2012)