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Probleme verbinden: In Gruppen tauschen Angehörige Erfahrungen aus.

Schön wäre, wenn eine psychische Erkrankung ähnlich einfach wie ein Beinbruch zu verstehen wäre. Niemand würde von einem Patienten mit Oberschenkelfraktur verlangen, einen schnellen Spurt hinzulegen. Warum eine Depression einen Menschen wochenlang einfach nicht aus dem Bett kommen lässt, ist viel schwerer nachvollziehbar. Allzu leicht könnte etwa in dieser Situationen Faulheit unterstellt werden.

Missinterpretation von Verhalten ist bei psychischen Erkrankungen an der Tagesordnung und setzt eine fatale Dynamik in Gang, die Kranke und ihre Angehörige in einen Teufelskreis zwingt - oft lebenslang, weil psychische Erkrankungen wie Schizophrenie, bipolare Störungen, Depression oder Demenz meist chronisch sind.

"Die Rolle eines Angehörigen, der in seiner Familie mit einer psychischen Erkrankung konfrontiert ist, ist in jedem Fall extrem kräfteraubend und belastend, vor allem werden Angehörige im bestehenden Betreuungssystem einfach zu wenig bedacht", sagt Psychiater Georg Psota, Chefarzt des Psychozialen Dienstes (PSD) in Wien. Nur wer selbst einmal betroffen war, könne das Ausmaß der Belastung verstehen, sagt Psota. Nervenaufreibende Pflege, ein hoher Zeitaufwand (bei Demenzkranken oft 24 Stunden am Tag), finanzielle Schwierigkeiten und zudem die gesellschaftliche Scham, die immer noch mit psychischen Erkrankungen verbunden ist, lassen pflegende Angehörige nicht selten ins Burnout schlittern.

"Je weniger Angehörige über eine psychische Erkrankung und den Umgang damit wissen, umso schwieriger ist die Situation", sagt Johannes Wancata, Leiter der Klinischen Abteilung für Sozialpsychiatrie an der Med-Uni Wien.

Haltlose Schuldgefühle

Zu wenig Know-how zeitige vor allem Schuldgefühle, so Wancata. Das haben Studien eindeutig ergeben. Je größer die Schuldgefühle, umso dringender der Wunsch eines Angehörigen zu helfen. Doch Hilfe in dem Sinn funktioniere bei psychischen Erkrankungen nur bedingt. Damit ist Frustration programmiert, Ungeduld die Folge. Und diese wirkt sich auch negativ auf die Kranken aus. Gegensteuern lässt sich nur durch zwei Maßnahmenbündel. "Psychoedukation", nennen es Psychiater, "das hat aber nichts mit Erziehung zu tun, sondern es geht darum, einen adäquaten Umgang mit Kranken zu erlernen", so Wancata. Ein Angehöriger, der weiß, wie Schizophrenie entsteht, wird nicht mehr so leicht Fehler dafür bei sich selbst suchen, so Wancata.

Dass niemand an einer psychischen Erkrankung "schuld" ist, muss er ziemlich oft erklären. Kommunikationstraining ist die zweite große Säule, die das Verhältnis zwischen Kranken und ihren Betreuungspersonen nachweislich verbessert. Eine gute Strategie: Wünsche äußern statt Kritik üben. Statt: "Dreh endlich die Musik leiser, die Nachbarn beschweren sich schon", könne ein "Ich wünsche mir, dass du die Musik leiser drehst, es wäre besser für dich und mich", bei Kranken zu einem Umdenken führen, gibt Wancata ein Beispiel.

Mit-, nicht gegensteuern

Schizophrenie-Kranke etwa reagieren extrem schlecht auf jede Form von Druck, auch habe es beispielsweise überhaupt keinen Sinn, etwaige Wahnvorstellungen ausreden zu wollen. "Wahnvorstellungen sind nicht einfach korrigierbar, gut zuzureden führt zu gar nichts", erklärt der Psychiater. Dem Kranken vermitteln, dass man seine Weltsicht akzeptiert, selbst die Sache aber anders sieht, sei ein guter Weg. Genau dar in sollten Angehörige geschult werden, so Wancata, da solche Maßnahmen die Rückfallsraten und Spitalsaufenthalte nachweislich reduzieren.

"Angehörigenbetreuung kommt in der Ressourcenplanung einer psychiatrischen Klinik kaum vor", kritisiert Wancata, der die zunehmend wichtiger werdende Rolle der Selbsthilfegruppen im Gesundheitssystem klar erkennt (siehe Kasten). "Selbsthilfe für Angehörige ist wirksam, das wissen wir", sagt auch Georg Psota, der die Einladung von Edwin Ladinser, dem Geschäftsführer des Vereins "Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter", zur Sitzung der PSD-Primarärzte auch symbolisch verstanden wissen will.

Mit dem Schicksal nicht allein

In Sesselkreisen erfahren Angehörige psychisch Kranker dann aber, dass sie mit ihrem Schicksal nicht allein sind. "Der Erfahrungsaustausch öffnet Schleusen", sagt Psychotherapeutin Antonia Croy, die Leiterin der "Selbsthilfe Alzheimer". Ein wichtiges Ziel für Angehörige sei, sich abgrenzen zu lernen und im Alltag Momente zum Krafttanken zu finden, erzählt sie. Oftmals ergeben sich aus der Gruppenarbeit Freundschaften oder ehrenamtliches Engagement. "Der Beratungsbedarf steigt, wir sind zunehmend auf freiwilliges Engagement angewiesen", so Croy, die - wenn notwendig - auch Einzelstunden abhält.

"So unterschiedlich die Krankengeschichten sind, die Probleme von Angehörigen sind meist sehr ähnlich", sagt Wancata. In einer Studie der Klinischen Abteilung für Sozialpsychiatrie hat die Arbeitsgruppe für Versorgungsforschung die Probleme der Angehörigen aus deren persönlicher Sicht erforscht. Die größten Sorgen der Befragten: die Enttäuschung über den Krankheitsverlauf und die große Sorge, was in der Zukunft mit den Kranken weiter passieren wird. (Karin Pollack, DER STANDARD, 10.10.2012)