Marcus Hammerschmitt: "Nachtflug. Erzählungen"
Broschiert, 254 Seiten, € 18,40, Shayol 2011
Nächsten Monat werde ich hier eine famose neue Anthologie vorstellen, die sämtliche Siegergeschichten des Deutschen Science-Fiction-Preises von 1985 bis heute enthält. Darin wird auch mehrfach der Name Marcus Hammerschmitt fallen - kein Wunder, wenn man sich diese Storysammlung ansieht, in der der Autor aus dem Saarland sein Können einmal mehr unter Beweis stellt. Oder besser gesagt dreizehnmal mehr. Die Geschichten stammen aus dem Zeitaum 2005 bis 2010, fünf davon sind erstmals in dieser Sammlung veröffentlicht worden. Und sie umfassen ein weites Feld von der politischen Satire über surreal-kafkaeske Begebenheiten und einen Far-Future-Genozid bis hin zur fiesen kleinen Weihnachtsfabel.
Gutbürgerliche Gewalt
Beispiel "Der Ethiker": Auf einem Landgut irgendwo in Deutschland werden Terroristen und Guerilleros aus aller Herren Länder in Medienarbeit ausgebildet - inklusive telegenen Kampfschminke-Stylings. So garantiert die Bundesrepublik sauberen und schönen Terror mit Unterhaltungswert, der nicht in Deutschland stattfindet - ein Deal, der (fast) alle glücklich macht. Noch zynischer als der kursleitende Medienpädagoge ist da nur noch die Rolle des hinzugezogenen Ethikkommissars. Schließlich bewerten seine Vorgesetzten nach rein ökonomischen Interessen, in welchen Ländern man Terrorakte zulässt. Erschreckenderweise wirkt die Geschichte nur allzu plausibel, so grotesk kann sie in ihren Details gar nicht sein.
Kanalisierte Gewalt propagiert auch "Die Gilde" in der gleichnamigen Geschichte und versteht sich als belebender Faktor der Gesellschaft. Der wohlsituierte Tonfall, in dem hier erzählt wird, macht das Böse noch unheimlicher - es muss nicht einmal direkt ausgesprochen werden, auf welche Art "Wild" die Schwetzinger Silberschützen da Jagd machen. Noch düsterer ist "Die Glatze", eine kurze Episode aus einem namenlosen Bürgerkrieg der nahen Zukunft, in dem die Hoffnung selbst ausgelöscht werden soll, weil sie "der schlimmste Kriegstreiber" sei.
Die Täter-Perspektive
Auf den ersten Blick scheint "Die Glatze" so gar nichts mit der fast schon humoristischen Weihnachtsgeschichte "Seidenschläfer" zu tun zu haben. Seidenschläfer sind neue Mode-Haustiere - in Wirklichkeit aber die Träger außerirdischer Parasiten, wie wir aus ihren telepathisch geführten Gesprächen erfahren. Dass die selbsternannten Bösewichte im Grunde nichts anderes tun, als ihre "Besitzer" glücklich zu machen, ist noch mal eine Extrapointe. Ändert aber nichts daran, dass es sich genauso wie bei "Die Glatze" um eine Geschichte aus der Täterperspektive handelt.
Das gilt ebenfalls für "Nachtflug", worin ein britischer Kampfpilot von deutscher Selbstgerechtigkeit die Nase voll hat und kurzerhand die frischrestaurierte Dresdner Frauenkirche zu Klump bombt, weil sie "als Ruine am meisten Sinn macht". Auf seine Tat blickt er mit derselben Genugtuung zurück, mit der ein sehr posthumanes Wesen in "Staub oder Die Melancholie im Kriege" den Genozid an der verbliebenen Standard-Menschheit plant. Von Mitleid keine Spur - mit diebischem Vergnügen beobachtet es, wie sich für eine Billion Menschen auf der solaren Dyson-Sphäre die Schlinge zuzieht: Ah, da kommt schon der erste Alarm. Ein wenig erschreckend ist es schon, wie problemlos sich Marcus Hammerschmitt in Charaktere hineinversetzt, die Tabula rasa machen.
Da ist jede Menge Wut im Spiel - mal schwelt sie lange unter der Oberfläche, mal überkommt sie Hammerschmitts Protagonisten überfallsartig und ohne nähere Erklärung. Den Mann, der in "Vanille" ein Paket stiehlt, daraufhin seltsame Träume bekommt und in ein Quarantänelager eingewiesen wird. Den Doktoranden, der in "Das Büro" über Querverbindungen zwischen Karl Marx, Friedrich Engels und dem Differenzmaschinen-Erfinder Charles Babbage forscht. Oder den Dichter, der in "Die Glatze" einen Gefangenen bewachen soll.
Reinhold Messner überlebt den Dritten Weltkrieg
Da tut es direkt gut, wenn die Aggressionen zur Abwechslung mal ausbleiben, und Hammerschmitt beherrscht auch das. Mit dokumentarischen Elementen spielt er in "Der Keller", worin versucht wird, einen äußerst mysteriösen Fall aus Polizeiberichten zu rekonstruieren, und in "In der Zentrale". Diese Geschichte ist auch deshalb so interessant, weil sie weder auf eine Pointe hinausläuft noch sonst gängigen Story-Mustern folgt. Hier berichtet einfach ein Sicherheitsmann von seiner Arbeit in einer neuen Art von Sex-Centern. Sein Bericht - zum Teil auch eine Rechtfertigung für seinen ungewöhnlichen Job - könnte das Protokoll einer TV-Reportage von heute sein.
In der hochkomischen Last-Man-on-Earth-Geschichte "Reinhold Messner überlebt den Dritten Weltkrieg" wiederum bleibt der Protagonist (nicht verwandt, nicht verschwägert) sogar ausgesprochen stoisch. Und das obwohl er auf eine vollkommen absurde neue Welt trifft, als er seinen schützenden Weltuntergangscontainer endlich verlässt. Versucht halt ein Mastodon sich mit seinem Panzerfahrzeug zu paaren, was soll's. Messner weinte noch ein bisschen, aber dann fährt er auf seiner Erkundungsfahrt auch schon weiter.
Zurück zur Satire
Eine der besten Geschichten in "Nachtflug" ist "Die Lokomotive", das mich an die Bürokratie-Satiren von Johanna und Günter Braun erinnert, ein Autoren-Ehepaar aus der DDR, dessen SF-Erzählungen man unbedingt gelesen haben sollte. Hammerschmitt schafft ein Braun'sches Ambiente par excellence: Auf einer antarktischen Insel hat sich der Staat Ladania als "kaltes Kuba" eingerichtet. Wo die Revolution ewig währt, gibt es Strukturate statt Unternehmen und Präferenzen statt Partnerschaften. Und auch wenn die allgemeine Mangelwirtschaft zwischen den Zeilen überdeutlich wird (kurz: man friert sich in Ladania den Arsch ab), verlangt es den Staat doch nach Prestigeprojekten. Also wird Genosse Josefo Reiszman beauftragt, eine Dampflokomotive zu bauen - und das in den 2020er Jahren. Die tragikomische Geschichte nimmt im weiteren Verlauf immer dunklere Töne an und ähnelt darin - wie auch in der beschriebenen Technologie - Terry Gilliams "Brazil". Nur eben kalt.
"Nachtflug" bedeutet, in einem Satz ausgedrückt, 13 kleine Verstörungen. Wer sie vor dem Einschlafen liest, wird interessante Träume haben.