Anlässlich der Armutskonferenz las man wieder überall, dass die Armut auch in Österreich weit verbreitet sei und zunehme. Wissenschaftliche Grundlage für die Botschaft war die wirkungsvoll gleichzeitig präsentierte Studie "Armut in der EU". Ein Blick in die Studie, die Zahlen von Eurostat verwendet, zeigt: Die Botschaft ist falsch.

Das Problem beginnt mit dem Begriff der Armutsgefährdung: Zunächst wird Armut gern mit Armutsgefährdung gleichgesetzt. Und als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des Medianeinkommen bezieht. Die slowakische Familie mit einem Monatseinkommen von 1000 Euro ist nicht " armutsgefährdet", weil sie über dem niedrigen Medianeinkommen in der Slowakei liegt. Die österreichische Familie mit einem Monatseinkommen von 2000 Euro ist "armutsgefährdet", weil sie unter dem heimischen Durchschnitt liegt. Die Folge: Nach der Statistik gibt es in der Slowakei weniger "Armutsgefährdete" als in Österreich. Merkwürdig nur, dass es Slowaken auf den österreichischen Arbeitsmarkt zieht und nicht umgekehrt.

Der Anteil der "Armutsgefährdeten" sagt somit nichts über den absoluten Lebensstandard der Betroffenen aus, sondern nur über die (Un-)Gleichmäßigkeit der Einkommensverteilung. In Österreich können sich 76 Prozent der Armutsgefährdeten ein eigenes Auto leisten, in den neuen EU-Staaten gilt das oft nicht einmal für den Durchschnittsbürger.

Das obere Beispiel zeigt, dass die Messmethode der Armutsgefährdung die Armut vor allem in reicheren Staaten statistisch "vermehrt". Die Armut wird aber auch "zementiert": Denn wenn sich alle Einkommen verdoppeln, hängt auch die Messlatte, das Medianeinkommen, zweimal so hoch, sodass gleich viele Menschen armutsgefährdet sind wie vorher.

Dementsprechend haben die Boomjahre vor 2008 die Armutsgefährdung nicht gesenkt, der Wirtschaftseinbruch 2008/09 hat - trotz Massenarbeitslosigkeit in manchen Ländern - die Armutsgefährdung in der EU nicht erhöht. In Österreich gab es im Krisenjahr 2009 sogar weniger Armutsgefährdete als in den Vorjahren. Der Grund: Die höheren Einkommen litten 2009 stärker unter der Krise, das Medianeinkommen sank. Damit sank auch die Messlatte für Armutsgefährdung, sodass viele plötzlich über der Schwelle lagen und dank der Krise nicht mehr armutsgefährdet waren. - Übrigens schneidet Österreich dennoch in beiden Kategorien international gut ab: Die Einkommen hierzulande sind hoch und relativ gleichmäßig verteilt, nur 12,1 Prozent der Österreicher beziehen weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens, gelten also als armutsgefährdet. 1995/96 waren noch 14 Prozent armutsgefährdet, seit 2000 ist der Wert stabil bei zwölf Prozent. Die Einkommen haben sich somit gleichmäßig entwickelt, die Unterschiede haben keineswegs zugenommen, wie stets behauptet wird.

Definitionen "on demand"?

Im Gegensatz zur Armutsgefährdung bedeutet das Merkmal der absoluten (manifesten) Armut einen absolut geringen Lebensstandard und echten Mangel. Die manifeste Armut nimmt dank steigender Einkommen in Österreich permanent ab. Nur 2008 sprang die Zahl der manifest Armen von 355.000 auf 511.000 Personen. Grund war aber nicht die Krise, sondern wiederum die Statistik: Die Statistik Austria ging von der EU-Definition ab und "lockerte" die Armutskriterien für Österreich, sodass mehr Menschen die Kriterien erfüllten und die Zahl der Armen statistisch plötzlich stieg.

Dass die Armutsmessung Armut statistisch vermehrt und zementiert, ist natürlich erwünscht. Denn damit ist Armut auch in reichen Staaten ein Thema und bleibt es auf alle Zeit. Und Armut ruft bekanntlich nach mehr Umverteilung, mehr Steuern und mehr Staat - und nach mehr Mitteln für die Mitgliedsorganisationen der Armutskonferenz. (Rudolf Gleißner, DER STANDARD, 24./25.11.2012)