Im syrischen Bürgerkrieg kämpft Abu Talha für die al-Nusra-Front, die ein Jahr nach Gründung bis zu 10.000 Mitglieder gewonnen hat. Bis 2011 war er in syrischer Haft - "dann organisierten wir uns und beteiligten uns am Jihad".

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"Machen wir einen Moment lang Pause, ich muss beten", sagt Abu Talha, der am Ortseingang zu Ras al-Ayn, einer Stadt in den syrischen Kurdengebieten an der Grenze zur Türkei, nach einem Platz zum Niederknien sucht.

Kämpfer der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), die dort den Kontrollpunkt bewachen, sehen ihn misstrauisch an. Abu Talha - nicht sein echter Name - ist ein 30-jähriger Syrer und ein Mitglied von Jabhat al-Nusra, der bekanntesten jihadistischen Miliz in Syrien. Er trägt militärische Ausrüstung, eine AK-47 und ein schwarzes Stirnband, auf dem in arabischer Schrift die kürzeste Form der Shahada, des islamischen Glaubensbekenntnisses, zu lesen ist: "Es gibt keinen Gott außer Gott, Mohammed ist der Gesandte Gottes." Er ist als Teil einer al-Nusra-Delegation zum Kontrollpunkt gekommen, um mit den YPG über Bedingungen eines Waffenstillstandes zu reden.

Jabhat al-Nusra nahm Ras al-Ayn zwischen dem 8. und 9. November ein. Wenig später begann die Regierung, die Stadt zu bombardieren - und die Granaten fielen auf alle: Islamisten, kurdische Milizen und die meist ebenfalls kurdischen Zivilisten.

"Die YPG sind meine Freunde"

Die YPG machten die Anwesenheit der Islamisten für die Luftangriffe verantwortlich und forderten sie auf, die Stadt zu verlassen. Auch Bewohner demonstrierten gegen die Jihadisten. Am 19. November begannen die beiden Seiten am Kontrollpunkt gegeneinander zu kämpfen.

In den Mauern hinter Talha sind Einschusslöcher zu sehen. In Ras al-Ayn wurden einige Häuser zerstört, und der Schutt, den die Bomben des Regimes hinterlassen haben, liegt noch herum. Viele der Bewohner sind in die Türkei oder in benachbarte Dörfer geflohen.

"Als ich sah, dass wir gegen die YPG kämpfen, legte ich meine Waffe nieder und bat meine Leute aufzuhören - die YPG sind meine Freunde", sagt Talha. Auf manche trifft das sogar im wörtlichen Sinne zu. Denn Abu Talha stammt aus Ras al-Ayn, so wie viele der kurdischen Milizionäre, die hier stationiert sind. Einige von ihnen grüßen ihn herzlich.

"Wir haben das Regime vertrieben und wir werden die Stadt den Menschen überlassen, die hier wohnen." Viele in der Freien Syrischen Armee (FSA) und unter den westlichen Unterstützern sind über Organisation, Effizienz und Unterstützung, die die Islamisten erreicht haben, alarmiert.

Laut eigener Darstellung wurde Jabhat al-Nusra zum Schutz von Zivilisten gegründet. Seit Jänner hat die Gruppe dutzende Selbstmord- und Bombenanschläge verübt, die Mitglieder der Organisation kämpfen außerdem gemeinsam mit der FSA in Aleppo, wo sie für ihre Einsatzbereitschaft an der Front und für ihre Effektivität im Kampf gleichermaßen gefürchtet und respektiert werden.

"Wir sind aber nicht die FSA", sagt Talha. "Wir haben keine Beziehung zur FSA. Unser Ziel ist das gleiche - aber das ist alles." Der Bürgerkrieg hat zuletzt eine stärker konfessionelle Dimension bekommen - und radikale islamistische Milizen haben an Bedeutung gewonnen.

Über die größte dieser Gruppen, Jabhat al-Nusra, ist nicht allzu viel bekannt - außer, dass ihre Soldaten erfahren und gut ausgebildet sind und im Kampf wissen, was sie tun.

An die Öffentlichkeit trat die Gruppe im Jänner 2012, als sie sich per Video in einem Internet-Forum vorstellte. Bis März hatte sie schon sieben Anschläge durchgeführt. Der wachsende Ruhm sorgte für Zulauf - mittlerweile gibt es vermutlich zwischen 6000 und 10.000 Mitglieder. "Ich bin mir über genaue Zahlen nicht sicher. Aber wenn ich in irgendeine Stadt oder ein Dorf komme, ist immer irgendjemand (von al-Nusra) schon da", sagt Talha. Jabhat al-Nusra betreibe Basen im Umland von Damaskus, Idlib und Homs - präsent sei man aber auch an vielen anderen Orten.

"Wer hat diese Gruppe gegründet? Syrer, die aus dem Irak zurückgekommen sind, von der Organisation 'Islamischer Staat Irak' (ISI), die zur Al-Kaida im Irak gehört." Talha gibt zu, dass al-Nusra Teil von Al-Kaida ist. Er sagt, er selbst sei im Irak ein Al-Kaida-Mitglied gewesen.

Talha kam 2005 nach Syrien zurück und gründete mit Freunden aus dem Irak eine Organisation zum Kampf gegen das Assad-Regime. Er wurde gefasst und sechs Jahre lang inhaftiert. Am 26. März 2011 wurde er mit 200 weiteren Gefangenen freigelassen. "Dann organisierten wir uns und beteiligten uns am Jihad."

"Die meisten von uns kommen aus Syrien. Wir haben aber auch Mitglieder aus Libyen, dem Maghreb, Saudi-Arabien und aus europäischen Ländern wie Belgien, Spanien, Frankreich und England." Al-Nusra habe Ausbildungslager in Syrien und nehme Rekruten auf, die bereit seien, für "Gottes Willen" zu kämpfen.

Für Salafisten wie die Anhänger von al-Nusra bezieht sich "Gottes Wille" auf eine wörtliche Interpretation des Koran und eine strenge Version der Scharia, des islamischen Rechts. Viele glauben, dass Gewalt der richtige Weg ist, ihr Ziel zu erreichen. Und einige halten Schiiten und die alawitische Sekte von Bashar al-Assad für Abtrünnige vom Glauben, die bekämpft werden müssen.

"Ziel der Jabhat al-Nusra ist es, nach dem Sturz der Regierung Syrien zu verlassen und anderswo weiterzukämpfen, um Gottes Willen in jedem Land zu tun, das je muslimisch war, etwa auch Spanien."

"Ich bin gegen die Idee, Zivilisten zu töten. Ich kämpfe gegen Soldaten", sagt Talha. Aber dann fügt er hinzu: "Ich spreche hier für mich, nicht für die Organisation." Viele seiner Gefährten bei al-Nusra teilen diese Sorge nicht, wie er zugibt. "Sie sagen, wenn sie an einem öffentlichen Ort eine Aktion machen, die viele Zivilisten und ein paar Soldaten trifft, dann ist es in Ordnung, die Zivilisten zu töten, um diese Soldaten treffen."

Berichte, wonach die Ressourcen der Gruppe mit Finanzmitteln aus den Golfstaaten gespeist werden, dementiert Talha. "Die Organisation nimmt keine internationalen Hilfen an, das ist verboten."

"Wir übernehmen die Kontrolle über Ölfelder und nehmen das Geld von den Ölfirmen, das sie sonst dem Regime bezahlt hätten. In unseren Reihen sind einige Experten, die Bankkonten haben, und die bekommen das Geld", behauptet Talha. Er fügt noch hinzu, dass es auch andere Geldquellen gibt, auf die er nicht eingehen will, keine davon aber aus dem Ausland stamme.

Doch nun ist es für Talha Zeit zu gehen. Er fordert, in diesem Text einen Decknamen zu bekommen, und will sein Gesicht verstecken, bevor Fotos gemacht werden. "Ich bin kein Terrorist", sagt er, "aber ich habe Verwandte in Europa. Und wenn ich dorthin reise, würde man mich verhaften, wenn man mich erkennt." (Jose Miguel Calatayud* aus Ras al-Ayn, DER STANDARD, 13.12.2012)