Brüssel/Wien - Graphen gilt als Wundermaterial und Shootingstar der Wissenschaft: "Dünnste", "steifste", "stärkste", "beste" und "höchste" sind Adjektive, die dem Material zugeordnet werden - und auch der Physiker Jari Kinaret von der Technischen Universität Chalmers in Göteborg (Schweden) meinte, dass Graphen "wahrscheinlich das Material mit den meisten Superlativen" ist. Er leitet das Projekt "Graphene", das nun von der EU als eines von zwei Vorhaben im Rahmen des groß angelegten Förderprogramms "Future and Emerging Technologies Flagship" (FET-Flaggschiff) massiv gefördert wird. Das andere auserwählte Vorhaben ist das Human Brain Project (HBP).

"Vorreiterrolle" Europas

EU-Digitalkommissarin Neelie Kroes hat bei der offiziellen Bekanntgabe der Preisträger-Projekte die "Vorreiterrolle" Europas in diesem Bereich gewürdigt. Dabei "geht es um eine Milliarde Euro für je zwei hervorragende Projekte. So viel Geld ist noch nicht zur Verfügung gestellt worden", so Kroes am Montag in Brüssel. Allerdings handle es sich dabei um eine Gesamtsumme in den nächsten zehn Jahren, wobei lediglich die Hälfte seitens der EU aufgebracht wird. Den Rest sollen öffentliche Institutionen, Universitäten und die Mitgliedsstaaten stemmen. Wie diese genau aufgebracht werden sollen, ist aber noch unklar.

Europa sei die "Wiege der Exzellenz in der Wissenschaft". Europas Position als Supermacht des Wissens hänge davon ab, wie es gelinge, das "Undenkbare zu denken und die besten Ideen zu verwirklichen. Dieser Milliardenwettbewerb belohnt europäische Durchbrüche in der Wissenschaft und zeigt, dass wir - wenn wir ehrgeizig sind - in Europa Spitzenforschung betreiben können". Damit könne Europa auch wettbewerbsfähiger werden und eine Heimstätte der wissenschaftlichen Exzellenz bilden. Allerdings müssten die Regierungen der EU-Länder "in den kommenden Wochen einem ehrgeizigen Haushalt für das Programm Horizont 2020 zustimmen".

Neues EU-Forschungsprogramm

"Horizont 2020" ist das neue EU-Programm für Forschung und Innovation, das die Kommission als Teil ihres Vorschlags für den EU-Haushalt 2014-2020 vorgelegt hat. Um neue Impulse für Forschung und Innovation zu setzen und damit Wachstum und Beschäftigung anzukurbeln, habe die Kommission für den Sieben-Jahreszeitraum ein ehrgeiziges Budget von 80 Milliarden Euro vorgeschlagen, zu dem auch das Programm der FET "Future and Emerging Technologies Flagship" gehört.

Jeder der beiden Gewinner erhält von der Kommission im Rahmen des IKT-Arbeitsprogramms 2013 Fördergelder in Höhe von jeweils bis zu 54 Millionen Euro. Weitere Mittel sollen aus nachfolgenden EU-Forschungsrahmenprogrammen sowie von privaten Partnern, Universitäten, Mitgliedsländern und der Industrie kommen.

Hintergrund: Graphen

Eigentlich handelt es sich bei Graphen um einen altbekannten Stoff: Graphit, der Hauptbestandteil von Bleistiftminen, besteht aus Graphenschichten. Eine Schicht von einem Millimeter Graphit besteht aus drei Millionen Graphen-Lagen. Jede dieser Lagen setzt sich aus Kohlenstoffatomen zusammen, die netzartig in sechseckigen Waben angeordnet sind. Allerdings haften die Schichten im Graphit nur schwach aneinander, beim Bleistift etwa trennen sich beim Schreiben unterschiedlich dicke Stapel und lagern sich auf dem Papier ab.

Andre Geim und Kostya Novoselov von der Uni Manchester gelang 2004 erstmals die Herstellung von Schichten des Materials, die nur eine Atomlage dick waren - mit einem einfachen Trick: Sie trennten dünne Graphit-Schichten mittels Klebeband so lange, bis wirklich nur noch eine Atomlage übrig blieb. Dafür wurden sie 2010 mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet. Neben den zwei Forschern sind zwei weitere Nobelpreisträger im Strategic Advisory Council des Projektes "Graphene" vertreten: Albert Fert und Klaus von Klitzing.

Forschungs-Boom rund um Graphen

In den vergangenen Jahren wurde nicht nur die Herstellung professionalisiert, es hat auch weltweit ein wahrer Forschungs-Boom rund um das Material eingesetzt und seine superlativen Eigenschaften zutage gefördert: Graphen gilt heute als das dünnste, steifste und stärkste bekannte Material. Es besitzt die höchste Wärmeleitfähigkeit, ist absolut undurchlässig für Gase und leitet bei Raumtemperatur elektrischen Strom besser als alle anderen Materialien.

Kein Wunder also, dass große Hoffnungen auf dem Material ruhen, in der Informations- und Kommunikationstechnologie ebenso wie beim Bau leichter, stabiler Strukturen oder bei der Batterieherstellung. In dem Projekt "Graphene" soll daher in den ersten Jahren "ohne konkretes Ziel in alle Richtungen geforscht werden", wie Thomas Müller vom Institut für Photonik der Technischen Universität (TU) Wien im Gespräch erklärte.

Opto-elektronische Eigenschaften von Graphen

Der an "Graphene" beteiligte Physiker beschäftigt sich schon länger mit den opto-elektronischen Eigenschaften von Graphen, konkret dem photoelektrischen Effekt: Wenn Licht auf das Material trifft, werden Elektronen aus ihrem Platz gelöst und Strom beginnt zu fließen. Dieser Effekt ist u.a. für die Computertechnik wichtig, etwa wenn Lichtsignale aus einem Glasfaserkabel in elektrische Signale umgewandelt werden müssen. "Der photoelektrische Effekt läuft in Graphen um ein Vielfaches schneller ab als in herkömmlichen Materialien wie etwa Germanium", so Müller. Bauteile aus Graphen wären dadurch deutlich schneller, effizienter, kleiner und billiger als bisher.

Beteiligung und Organisation

Neben der TU Wien ist aus Österreich auch die VARTA Micro Innovation Forschungsgesellschaft an dem Konsortium beteiligt, das insgesamt 126 Arbeitsgruppen aus Universitäten, Forschungseinrichtungen und Unternehmen aus 17 europäischen Staaten umfasst. Wie die Arbeit in einem so großen Projekt koordiniert werden soll, ist auch Müller noch nicht ganz klar. Es gebe aber rund zehn Untergruppen und innerhalb dieser würde man sich auch persönlich kennen, sagte der TU-Forscher, der in der 2,5 Jahre dauernden mit 54 Millionen Euro dotierten Startphase mit rund 500.000 Euro für seine Arbeit rechnet. Das EU-Flaggschiff-Projekt hat eine Gesamtlaufzeit von zehn Jahren und ist insgesamt mit einer Milliarde Euro dotiert. (APA/red, derStandard.at, 28.1.2013)