Warum finden wir so großen Gefallen am virtuellen Töten? Vielleicht ist es an der Zeit, ein Missverständnis auszuräumen: Gewalt ist auch abseits der jungen Gamesbranche ein allgemeines und grundlegendes menschliches Faszinosum.

Foto: Epic Games

In den vergangenen Wochen ist anlässlich des Amoklaufs in den USA eine Debatte wieder aufgebrandet, die so alt ist wie das Medium Videospiele selbst - tatsächlich ist sie aber noch viel älter. Es geht um Verantwortung, Medien und Gewalt, kurz zusammengefasst in einer einzigen Frage: Machen gewaltdarstellende Medien ihre Konsumenten selbst gewalttätig? Für viele, unter ihnen die amerikanische Waffenlobby NRA und ihre Freunde, ist diese Frage bequem zu beantworten: "Videospiele sind ein größeres Problem als Waffen, denn Spiele beeinflussen Menschen", urteilte erst kürzlich der republikanische Senator Lamar Alexander - und der Großteil zumindest der eigenen Wählerschaft stimmt zu

Keine seriösen wissenschaftlichen Studien

Eines vorweg: Es gibt nach wie vor keine seriösen wissenschaftlichen Studien, die einen Zusammenhang zwischen Videospielen und realer Gewalttätigkeit bei ihren Konsumenten nachweisbar belegen. Insofern ist es nur zu begrüßen, dass sich vor kurzem US-Präsident Barack Obama dafür ausgesprochen hat, verstärkt wissenschaftlich dieser Frage auf den Grund zu gehen - auch wenn allein die Tatsache skeptisch macht, dass in den Jahrzehnten, in denen allen gewaltdarstellenden Medien, von Comics über Filme bis hin zu Videospielen, dies wieder und wieder unterstellt wurde, niemals ein solcher Zusammenhang gefunden wurde.

Die alte Formel, dass "Sex & Crime" das Publikum faszinieren - eine Weisheit, die vermutlich sogar älter ist als das geschriebene Wort -, muss im Fall des Mediums Games, dem das Stigma des Kinderkrams anhaftet, allerdings mangels eines Elements der Formel auf ein noch simpleres Erfolgsrezept verkürzt werden: Weil sich die Branche auch angesichts ihrer Verwurzelung im puritanischen US-Markt mit Sex schwer tut, wird Gewaltdarstellung umso mehr in zunehmender Drastik als Verkaufsargument hochgejubelt, aber selten hinterfragt. Titel wie "Spec Ops: The Line" und "Hotline Miami", in denen das virtuelle Töten differenzierter abgehandelt wird, sind die Ausnahme. Kein Wunder, dass sich vor allem jenen, die dem Medium fernstehen, angesichts all der virtuellen Gewalt ein Zusammenhang zur realen Gewalt förmlich aufdrängen muss.

Gewalt fasziniert

Warum finden wir so großen Gefallen am virtuellen Töten? Vielleicht ist es an der Zeit, ein Missverständnis auszuräumen: Gewalt ist auch abseits der jungen Gamesbranche ein allgemeines und grundlegendes menschliches Faszinosum. Weltliteratur und Kunst sind seit Jahrtausenden Bühne für blutige Rachefantasien, grausame Heldengeschichten und drastische, blutige Tragödien. Es liegt in der Natur des Menschen, in einer Mischung aus Faszination und Abscheu hinzuschauen, wenn die Fäuste fliegen, wenn öffentliche Hinrichtungen stattfinden oder auch nur Autounfälle ihre blutigen Tableaus zeigen. Im sportlichen Wettkampf zeigt sich die zivilisierte, gezähmte Version gesellschaftlich geduldeter Gewalt - auch wenn hier in so mancher Full-Contact-Sportart oder bei besonders rustikaler Auffassung von Fairness im Fußball die Grenze zum tätlichen Angriff selbstverständlich überschritten wird.

Mit anderen Worten: Gewalt ist ein Bestandteil des menschlichen Wesens, und ihre Thematisierung in Kunst und Unterhaltungsmedien lässt die wenigsten kalt. Man kann sich ihrer Faszination nicht entziehen, sich höchstens mehr als seine Zeitgenossen abwenden und davon fernhalten - doch verleugnen lässt sie sich nicht. Selbst die Märchen, die wir unseren Kindern erzählen, sind voll von Brutalität und exzessiven Gewaltszenen. Auch das erfolgreichste Genre der Gegenwartsliteratur, der Krimi, lebt schließlich von den Abgründen aus Gewalt und Verderben, und nicht erst seit Quentin Tarantino lässt sich Gewalt im Film durchaus lustvoll auch von Intellektuellen konsumieren.

Die Branche ist selbst an ihrem Image schuld

Dass Gewalt und ihre Darstellung ihre Käufer finden, ist bei nüchterner Betrachtung also beileibe kein Spezifikum der Gamesindustrie. Was der Spielebranche allerdings vorzuhalten wäre, ist einzig ihre übergroße, fast monothematische Betonung dieses Bereichs, doch auch hierin liegt eigentlich ein Missverständnis: Die extremen Beispiele, in denen die Gewaltdarstellung tatsächlich alleiniger Dreh- und Angelpunkt des Spielgeschehens ist, machen nicht die Mehrheit eines Mediums aus, das mit Sport-, Strategie-, Casual- und Adventurespielen, um nur einige zu nennen, riesige Teile besitzt, in denen der fotorealistische Headshot gar keinen Platz hat.

Dummerweise - und das muss der Branche durchaus als Schuss ins eigene Knie zugeschrieben werden - konzentrieren sich PR und Marktgeschrei der Branche selbst Jahr für Jahr auf jene Shooter-Titel, die dem Games-Laien allein wegen ihrer medialen Allgegenwart als die Spiele par excellence vorkommen müssen. Wer den großen PR-Rummel der Gamesbranche als Gradmesser nimmt, sieht tatsächlich das Zerrbild einer von Gewaltverherrlichung unangenehm beherrschten Branche. Denn auch in der Wahl der Werbemittel wird wohl oft der Parole "Any PR is good PR" gefolgt: Verstümmelte Frauentorsos als Dekoobjekte, sexualisierte Gewaltfantasien im Trailer und die enge Zusammenarbeit mit Waffenproduzenten bis hin zum Giveaway richtiger Waffen bestätigen die schlimmsten Befürchtungen all jener, die ohnedies sofort Spiele als ersten Jugendverderber im Verdacht haben, wenn etwas passiert.

Gewaltfixierte PR

Diese Fixation auf besonders reißerische, zunehmend blutiger werdende Gewaltdarstellung als Marketingmaßnahme veranlasste letztes Jahr selbst Industrielegende Warren Spector dazu, anlässlich der Präsentationen auf der E3 Kritik an dieser Gewaltfixierung des Mediums zu üben, wie sie sich besonders in den erfolgreichsten Titeln des Mainstreams zeigt. Auch Kris Graft, Herausgeber des Industriemagazins Gamasutra, zeigte sich nach der E3 erschüttert: Die Zielgruppe, die von den großen Publishern  mit ihren blutigen Trailern angesprochen werde, bestünde in den Augen der Analysten wohl aus "bloodthirsty, sex-starved teen males who'll high-five at a headshot and a free T-shirt" - der ausschließliche Gewaltfokus als Marketingmaßnahme schade schlussendlich der gesamten Industrie und ignoriert zudem den immer größer werdenden Teil der Spielerschaft, der eben nicht gewaltfixiert, männlich, weiß und geschmacklich pubertär ist.

Militainment: militärisch-popindustrieller Komplex

Wenn die NRA nicht gerade Spiele als Sündenbock abstempelt, ist aber auch die Zusammenarbeit der Waffen- und Militärindustrie mit der Spielebranche in diesem Zusammenhang durchaus problematisch. "Militainment", die Vermischung von Entertainment und militärischer Industrie, ist dabei aber bei weitem nicht auf das Medium Spiele beschränkt. Bereits im Ersten und Zweiten Weltkrieg kooperierte das US-Militär mit der Traumfabrik Hollywood, um die Bevölkerung patriotisch auf den Krieg einzustimmen. Erst zu Zeiten des Vietnamkriegs kühlte das Verhältnis wieder ab, doch unter Ronald Reagan, zu Zeiten des kalten Krieges und des "Reichs des Bösen", kehrte mit Filmen wie "Top Gun" oder "Rambo 2" fast reine Militärpropaganda auf die Leinwände zurück.

Aktuell nutzt das Pentagon nicht nur selbstverständlich Spiele wie "America's Army" zu Werbezwecken, sondern auch Blockbuster wie die "Transformers"-Reihe, um Waffen, Militär und Rüstungsindustrie zu bewerben. Die Doku "Operation Hollywood" gibt einen sehenswerten Überblick über die Verzahnung von Entertainment und militärisch-industriellem Komplex, und natürlich bekennen auch Waffenhersteller freimütig den "Werbeeffekt", den die virtuelle Nachbildung ihrer Waffen auf zukünftige Konsumenten ausüben soll. Die Verherrlichung bewaffneter Kriegführung ist allerdings auch hier kein Spezifikum des Mediums Videospiele, und dass das Abfeuern simulierter Waffen im Computerspiel das Training am realen Schießstand ersetze oder die Spieler gegenüber realem Töten desensibilisiere, wird publikumswirksam nur von "Experten" behauptet, die sich in Talkshows selbst promoten - aus naheliegenden Gründen gibt es für derart gewagte Thesen keine wissenschaftlichen Belege.

Weniger reale Gewalt

Gewalt ist also eine menschliche Konstante, und am Verkauf von Unterhaltungsprodukten mit patriotischem, gewaltdarstellendem oder schlicht gewaltverherrlichendem Inhalt verdienen weitaus mehr Branchen als nur die Spieleindustrie. Doch macht diese virtuelle Gewaltdarstellung ihre Konsumenten gewalttätig? Ein simpler Blick auf die Statistik belegt eigentlich das Gegenteil: Nie war das tägliche Leben der meisten Menschen zumindest in der westlichen Welt gewaltfreier als heute. Der Evolutionspsychologe Steven Pinker bezeichnet in seinem Buch "Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit" die Gegenwart nüchtern als die gewaltloseste Epoche in der Geschichte der Menschheit - ein Befund, der angesichts der subjektiven Wahrnehmung der dafür umso lauter schreienden Medien überrascht. Mit anderen Worten: Just in Zeiten, in denen virtuelle Gewalt und Gewaltdarstellung anscheinend rasant zunehmen, sank die reale Gewaltanwendung, der die Menschen ausgesetzt waren, signifikant - und das nicht nur in einzelnen Ländern, sondern global.

Liegt vielleicht gerade darin der Reiz der gewaltdarstellenden Unterhaltungsmedien? Steigt, wenn weniger reale Gewalt erfahren wird - im täglichen Umgang miteinander, im Arbeitsleben, im Umgang des Staates mit seinen Bürgern - der Reiz, sich mit virtueller Gewalt zu beschäftigen? Oder trägt diese virtuelle Gewaltauslebung vielleicht sogar dazu bei, dass reale Gewalt zurückgeht? Dieser Gedanke, der auf den ersten Blick angesichts aktueller Tragödien wie in Sandy Hook und des darauffolgenden Backlashs gegen Videospiele kaum Gehör findet, ist in der psychologischen Literatur als Katharsis-Hypothese bekannt. Das Ausleben auch virtueller Gewalt könne ihr zufolge dazu beitragen, negative Emotionen wie Wut und Aggression zu reduzieren - eine These, die ebenso wie ihr Gegenpart - dass virtuelle Gewalt zu realer Gewalt führe - bislang nicht ausreichend seriös in Studien belegt werden konnte.

Gewalt, real und virtuell

Hat die Spielebranche ein Gewaltproblem? Möglicherweise, doch nicht unbedingt im Sinne jener, die reflexhaft dem suspekten vermeintlichen Jugendmedium die Schuld an tagesaktuellen Tragödien zusprechen wollen. Die Gewaltfixierung, wie sie sich vor allem in der Handvoll sich am besten verkaufenden Shooter und der dazu oft Geschmacksgrenzen übertretenden PR zeigt, ist tatsächlich auf die Bandbreite des Mediums umgelegt weniger groß, als behauptet wird - und sie ist, wie gezeigt, nicht auf das Medium Spiele beschränkt: Gewalt, so könnte man lakonisch anmerken, ist als faszinierende Zutat in allen Medien vorhanden: von der Literatur über Film bis hin zu den Nachrichten. Es sollte zum Nachdenken anregen, dass einerseits allzu oft im Gefolge großer Tragödien wie in Sandy Hook reale Gewalt in stundenlangen Sondersendungen mit Berichterstattung bis hin zur Beerdigung der Opfer ausgeschlachtet wird, gleichzeitig aber "gewaltverherrlichende" andere Medien wie etwa Spiele dafür angeprangert werden, ihr Geschäft mit virtuellem Blutvergießen zu machen.

Gewaltdarstellung ist keine Gewalt

Denn eines gerät ausgerechnet bei jenen Anklägern des Mediums, die pauschal die Gefahr der Verwechslung von realer und virtueller Gewalt unterstellen, zu oft aus dem Blickfeld. Das Klicken einer Maustaste oder das Drücken eines Knopfes auf dem Joypad ist keine Gewalt.  Unabhängig davon, wie viel Pixelblut auf den Bildschirmen auch verspritzt wird: Virtuelle Gewalt zu konsumieren ist moralisch weniger verwerflich als das Kaufen von Eiern aus Käfighaltung - und das absichtliche Zertreten einer einzigen Ameise oder jede "gesunde Watschn" ist ohne Frage mehr reale Gewalt als das virtuelle "Töten" hunderter Polygonsoldaten.

In einigen Jahrzehnten, wenn sich Videospiele einen Platz als akzeptiertes Medium unter anderen erkämpft haben werden, wird wohl ein anderes, wegen seiner Neuheit suspektes Medium als Dauersündenbock für die kurzsichtige Suche nach Antworten auf Tragödien herhalten müssen, für die es keine einfachen Antworten gibt. Bis dahin sollte man auch mit der Verwendung großer Begriffe vorsichtig sein. Zwischen realer Gewalt, Gewaltdarstellung und Gewaltverherrlichung sind größere Gräben, als in den hysterischen Diskussionen mitbedacht wird. (Rainer Sigl, derStandard.at, 13.2.2013