Radicchio Rosso di Treviso Tardivo ist das Produkt eines aufwändigen Kultivierungsprozesses.

Foto: Georges Desrues

Die im Juni ausgesäten Pflanzen stehen bis Ende Jänner auf dem Feld,...

Foto: Georges Desrues

...bevor sie samt Wurzeln ausgestochen und in Kisten gepackt werden.

Foto: Georges Desrues

14 Grad warmes Quellwasser aktiviert ihr Wachstum erneut - der frische Trieb entwickelt sich einzig aus der Kraft der Wurzel und wird deshalb so unvergleichlich zart.

Foto: Georges Desrues

Paolo Manzan schwärmt von der "Blüte des venezianischen Winters" und stapft durchs matschige Radicchio-Feld. Was sich zu seinen Füßen aneinanderreiht, sieht aber gar nicht nach Blüten aus. Eher sind es ausgewachsene Salathäuptel, deren lange, welke Blätter schlaff auf den aufgeweichten Acker fallen. "Das ist ja auch noch nicht der wahre Radicchio", betont Manzan und reißt eine Pflanze aus dem Boden, putzt sie ein wenig ab und bricht die Blätter ab. "Das wird so gut wie alles weggeschmissen, wir brauchen nur die kleinen Triebe im Inneren - und vor allem die Wurzel", sagt er.

Manzan ist Gemüsebauer, und was er in den Händen hält, ist Radicchio der Sorte Rosso di Treviso Tardivo. "Der König der Radicchi", wie er meint. "Wir säen im Frühjahr, lassen ihn über den Sommer wachsen, bis im November die Nachtfröste kommen." Durch mindestens zwei eisige Nächte - so schreibt es das Konsortium der Radicchio-Produzenten vor - müsse der Rosso Tardivo, bevor er geerntet werden könne. Frost stoppt sein vegetatives Wachstum, während die Blätter außen dranbleiben, um die zarten Triebe vor genau dem Frost zu schützen. "Die Mutterpflanze schmeckt viel zu bitter und kann nicht gegessen werden", sagt Manzan, der nebenbei als Direktor des Konsortiums amtiert.

Nirgendwo wird um die Pflanzen der Gattung Zichorie, zu der alle Radicchio-Sorten gehören, ein solcher Kult betrieben wie in Venetien. Gleich mehrere Gemeinden bauen ihre eigenen Varietäten an, deren Namensliste sich liest wie eine Reise durch die Kulturstädte Nordostitaliens. Aus Treviso beispielsweise kommt neben besagtem Rosso Tardivo auch der längliche, keilförmige Rosso Precoce. Ursprünglich aus der Lagunenstadt, die ihm den Namen gab, stammt der vermutlich bekannteste unter ihnen, der auch hierzulande weitverbreitete, kugelrunde Radicchio di Chioggia; nach Verona, Heimat von Romeo und Julia, ist eine kürzere, spitzere Spielart benannt; und nach der Festungsstadt Castelfranco eine, die dem Häuptelsalat ähnelt - allerdings mit purpurnen Tupfern auf den zartgrünen Blättern; tief im Osten, im friulanischen Görz, ist man stolz auf die seltene Rosa di Gorizia.

Streng kontrollierte Herkunftsbezeichnung

Alle diese Sorten baut auch der Gemüsebauer Manzan an. "Auspflanzen kann ich, was ich will, aber anders benennen muss ich sie, die meisten davon sind herkunftsgeschützt und dürfen die Namen der Städte nur dann tragen, wenn sie auch in deren Umgebung angebaut werden", sagt er. Seine eigenen Felder liegen in der Gemeinde Visnadello, elf Kilometer nördlich von Treviso. "Von allen anderen Sorten unterscheidet sich der Tardivo dadurch, dass er nicht direkt vom Feld in den Handel kommt, sondern vorher noch zwei Wochen ins Wasserbad muss, das ist sonst nur bei der Rosa di Gorizia der Fall", erzählt Manzan im Auto auf dem Weg durch die Felder, zurück zu seinem Hof.

Dort stehen unter weißen Planen Kisten auf dem Boden, gefüllt mit üppigen Radicchio-Köpfen. Unter ihnen und um sie herum fließt frisches Quellwasser. Noch schlammiger als auf dem Feld ist es hier: Erde, Matsch, Wasser, labbrige Salatblätter, wohin man blickt. Jetzt beginnt die zweite Phase der Produktion: Bis zu zwanzig Tage müssen die Köpfe im 14 Grad warmen Quellwasser stehen, bis sie einen neuen Trieb in ihrer Mitte entwickeln. "Auf dem Feld waren sie eingeschlafen, jetzt spüren sie die Wärme, halten das für den Frühling und treiben wieder aus. Die Plane verhindert die Fotosynthese und somit, dass sie sich grün verfärben", sagt Manzan und teilt die welken Blätter einer erdverschmierten Mutterpflanze, in der sich, tief drinnen, ein makellos weißes Herz mit leuchtend purpurnen Rändern gebildet hat.

Blütenweiße Triebe

Nachdem sie gebleicht wurden - wie man hier sagt -, kommen die Köpfe in eine kleine Halle, wo ein Dutzend Mitarbeiter die blütenweißen Triebe aus den matschigen Blättern schälen, in frischem Quellwasser nochmals spülen und fein säuberlich in Kisten schlichten. "Den echten Radicchio di Treviso gibt es nur bei uns", sagt Manzan mit Stolz. Tatsächlich wird der Tardivo ausschließlich hier, im Hinterland von Venedig, an den Ufern des Flusses Sile, erzeugt. Der hohe Aufwand, die viele Handarbeit und die großen Mengen Wasser, die er benötigt, machen ihn zu einem einzigartigen und verhältnismäßig teurem Produkt. "Wasser haben wir hier genug", sagt Manzan, "der Sile entspringt aus zahlreichen unterirdischen Quellen, die für eine ideale Bodenbeschaffung sorgen." Während der runde Radicchio aus Chioggia und der längliche Rosso Precoce inzwischen in ganz Europa angebaut werden, bleibt der bizarr geformte Rosso Tardivo eine regionaltypische Spezialität. Und erinnert mit seinen barock gezwirbelten Blättern an byzantinische Arabesken und kunstvoll geblasenes Muranoglas.

Zum Mittagessen geht es ins Restaurant Albertini, wo ein Schild mit der Aufschrift "Ristorante del Radicchio" unanfechtbare Kompetenz verheißt. Es ist Freitag, also gibt es Fisch. Und Radicchio sowieso. "Zu Fisch und Meeresfrüchten passt jeder Radicchio, und der süßliche und nur leicht bittere Tardivo ganz besonders", sagt Signore Albertini, der Wirt und Koch. Er serviert als Einstieg rohe Blätter mit Olivenöl, einem Tropfen Zitrone und frischem Pfeffer. Danach drei Antipasti aus Radicchio mit Rotbarbenfilets, mit Tintenfisch und mit Oktopus. Und als Primo piatto ein Risotto al Radicchio. "Natürlich kann man den Risotto auch mit anderen Sorten zubereiten, aber um ihn alleine zu begleiten, schmeckt nur der Tardivo intensiv genug", sagt Albertini und kredenzt zum Hauptgang frittierte und gegrillte Radicchio-Blüten - ganz ohne Fisch.

Ob aus Treviso oder Gorizia, aus Castelfranco oder Verona - über eins ist man sich hier einig: In jedem Fall eignet sich das prachtvoll farbenfrohe und hochwertige Wintergemüse für weit mehr als lediglich für einen dekorativen Farbtupfer im gemischten Salat, wozu es nördlich der Alpen nur allzu oft herabgewürdigt wird. (Georges Desrues, Rondo, DER STANDARD, 15.2.2013)