"Als Therapeutin versuche ich die Spiritualität, die religiösen Überzeugungen meiner Klienten zu achten als mögliche Kraftquelle. Es ist aber nicht meine Aufgabe, ihnen eine Spiritualität aufzudrängen", sagt die Psychologin und Psychotherapeutin Ulrike Schiesser.

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Nicht nur in Lebenshilfe-Seminare werden den Klienten fragwürdige Techniken zur Problemlösung verkauft. Auch ausgebildete Psychotherapeuten versprechen mitunter Heilung durch Übersinnliches. Was Betroffene bei zweifelhaften Methoden tun können, erklärt die Psychologin Ulrike Schiesser im Gespräch mit derStandard.at.

derStandard.at: Was halten Sie davon, wenn ein Psychotherapeut in seine Arbeit mit Klienten esoterische Elemente einbaut?

Schiesser: Ich halte es für sehr bedenklich, wenn ein Fachmann Lehren integriert wie beispielsweise das Human-Design-System, eine Mischung aus Chakren-Lehre und Astrologie: Ausgehend vom Zeitpunkt der Geburt wird dem Klienten ein Persönlichkeitstyp zugeordnet - die Persönlichkeit gilt dabei als fest in den Genen verankert und unbeeinflussbar. Auch Aura-Lesen, Reinkarnationstherapie, energetische "Heilungen" und Channeling kommen zum Einsatz. Da stellt sich die Frage: Wie spirituell darf ein Psychotherapeut in seiner Therapie sein?

derStandard.at: Gibt es für diese Situation ein Bewusstsein?

Schiesser: Die Diskussion fängt jetzt erst langsam an, und die Abgrenzung fällt manchmal schwer. Bis zu welchem Punkt bin ich Therapeutin, und wo fange ich an, eine Art Guru-Funktion für den Klienten zu übernehmen, ihm also mein eigenes Weltbild aufzudrängen? Wir sind keine Heiler. Das kann für Therapeuten eine Versuchung darstellen, der man widerstehen muss. Die Klienten hadern mit vielen Problemen, und als Therapeut möchte man helfen. Manche Therapeuten sagen: Wenn Klienten sich wohler fühlen, weil ich ihre Aura mit meinen heilenden Kräften reinige oder sie in einem schamanischen Ritual begleite, wieso nicht? Hauptsache, es hilft.

derStandard.at: Wann wird Psycho- zur Pseudotherapie?

Schiesser: Ein Therapeut ist ein Begleiter, der den Klienten dabei unterstützt, seine Probleme zu lösen. Wenn jemand beispielsweise von einer Beziehung Abschied nehmen will, kann ein Ritual helfen - wie dieses allerdings aussieht, sollte der Therapeut nicht allein bestimmen. Er kann Ideen geben, aber er gibt nicht vor, wie das Abschiedsritual aussieht, weil das für den Klienten maßgeschneidert sein muss.

Der Betroffene muss lernen, wie er selbst mit seinen Problemen umgehen kann, welche Handlungen ihn dabei unterstützen können, und das ist sehr individuell. In einem esoterischen Konzept gibt es meist etwas Übersinnliches, das den Klienten von außen unterstützt - und den Zugang dazu vermittelt der Heiler. Ist es also die Selbstbestimmung, die gefördert wird, oder wird ein Konzept vorgegeben, das Heilung von außen oder durch Übersinnliches verspricht? Das macht den Unterschied zwischen einer spirituellen Lebensunterstützung und einer Psychotherapie.

derStandard.at: Welche Folgen kann eine Pseudotherapie haben?

Schiesser: Nach meiner Beobachtung neigen Therapeuten, die esoterische Elemente einbauen, dazu, ihren Klienten mehr Handlungsanweisungen zu geben. Zum Beispiel: "Trennen Sie sich von Ihrem Partner, der strahlt negative Energien aus." Sie beziehen sich dabei auf Wissen, das angeblich aus einer spirituellen Quelle stammt und daher vom Klienten kaum überprüft und angezweifelt werden kann. Statt zu unterstützen, dass ein Klient möglichst viel Handlungsspielraum hat, wird ein Wertesystem vorgegeben und die Abhängigkeit vom Therapeuten gefördert.

derStandard.at: Wie kann ein Klient reagieren, wenn er Zweifel an der Therapie hat?

Schiesser: Die in Österreich anerkannten Therapierichtungen müssen wissenschaftlichen Kriterien entsprechen. Jede Technik, die angewendet wird, muss einen methodischen Hintergrund haben und nachvollziehbar sein. Es muss möglich sein, dass der Klient den Psychotherapeuten nach der theoretischen Basis einer Methode fragt. Wenn die Antwort nicht zufriedenstellend ist, gibt es noch die Möglichkeit, direkt beim Bundesverband der Psychotherapeuten, im Gesundheitsministerium oder in der Bundesstelle für Sektenfragen nachzufragen, ob die entsprechende Therapietechnik anerkannt ist.

derStandard.at: Legen Betroffene denn oft Beschwerde ein?

Schiesser: Das passiert relativ selten. In der Bundesstelle für Sektenfragen sind es oft die Angehörigen, die sich melden, wenn sich Betroffene zurückziehen und psychisch belastet wirken. Psychotherapeuten erhalten häufig einen Vertrauensvorschuss, weil davon ausgegangen wird, dass sie sich in dem auskennen, was sie tun. Wenn ein Klient also das Gefühl hat, dass ein Therapeut ihn in eine Richtung drängt, in die er nicht möchte, wagen manche nicht, sich abzugrenzen, und suchen die Schuld zuerst einmal bei sich. Der Therapeut wird oft als mächtig erlebt, und da Klienten viele sehr intime Dinge von sich erzählen, zögern manche, Beschwerde gegen ihn einzureichen. Da die meisten Therapien Einzeltherapien sind, steht dann Aussage gegen Aussage.

derStandard.at: Wie reagiert man umgekehrt als Psychotherapeut, wenn Klienten parallel spirituelle Therapien in Anspruch nehmen?

Schiesser: Mir hat einmal eine Klientin gesagt, dass ihre Energetikerin durch Kartenlegen geprüft hat, ob ich eine gute Therapeutin bin. Viele Klienten nutzen neben der Psychotherapie eine Reihe spiritueller Angebote. Jeder hat das Recht, an das zu glauben, was er möchte, und viele finden auch Halt im Glauben.

Die Spiritualität ist - genauso wie die Sexualität - häufig ein Tabuthema in der Psychotherapie. Manche Therapeuten sprechen ihre Klienten nie darauf an, woran sie glauben, wie sie sich zum Beispiel ein Leben nach dem Tod vorstellen. Weltbilder sind aber sehr prägend, da können viele Ressourcen drin stecken, aber manchmal auch viel Belastendes. Als Therapeutin versuche ich die Spiritualität, die religiösen Überzeugungen meiner Klienten zu achten als mögliche Kraftquelle. Es ist aber nicht meine Aufgabe, ihnen eine Spiritualität aufzudrängen. (Sophie Niedenzu, derStandard.at, 26.4.2013)