Oliver Hochadel: El Mito de Atapuerca. Orígenes, Ciencia, Divulgación. UAB Servei de Publicacions, 2013, 382 Seiten, 24 Euro (E-Book 12 Euro)

Foto: Ediciones UAB

Es bedurfte des Röntgenblicks eines Außenstehenden, um komplexe wie unbequeme Zusammenhänge aufzuzeigen und diese in einen breiteren Kontext zu stellen. Gilt es doch essenzielle Fragen unseres Menschseins wie Woher kommen wir? Wer sind wir? zu klären.

Dem deutschen Wissenschaftshistoriker Oliver Hochadel glückte mit El Mito de Atapuerca. Orígenes, Ciencia, Divulgación (dt. Der Mythos Atapuerca. Ursprünge, Forschung, Popularisierung) eine kritische Synthese der spanischen Paläowissenschaft der vergangenen Jahrzehnte im nationalen wie internationalen Spektrum. Hochadel, langjähriger Standard-Autor, lebt in Barcelona, wo er seit 2011 an der Institució Milà i Fontanals forscht - das Teil des mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vergleichbaren spanischen CSIC (Consejo Superior de Investigaciones Científicas) ist.

In der bisher nur auf Spanisch erschienenen Monografie über die weltbekannten Hominidenfunde von Atapuerca, die Belege der "Ältesten Europäer" sind, geht Hochadel der Frühgeschichte der Iberer und somit auch eines Kontinents nach, die, wie der Autor festhält, "eine der umstrittensten Disziplinen ist". Zugleich widmet er sich dem Spannungsfeld zwischen der Vermittlung dieser Epoche und der medialen Popularisierung, die letztlich der Maximierung öffentlicher Fördermittel - auch via der touristischen Erschließung der Fundorte - dient.

Auf knapp 380 Seiten spannt Hochadel den Bogen von den Höhlenmalereien im kantabrischen Altamira zu den Fossilienfunden in Atapuerca unweit von Burgos. Beides goldene Kälber der iberischen Frühgeschichte und längst Unesco-Welterbestätten, die zu Besuchermagneten hochstilisiert wurden.

Hochadel thematisiert auch den "Wissenschaftskolonialismus", den spanische Forscher seit Beginn des 20. Jahrhunderts beklagen. Ausländische Forscher würden sich "ihre" prähistorischen Schätze unter den Nagel reißen, die Spanier selbst würden ins Hintertreffen geraten, lautete der Vorwurf. Mit den sensationellen Funden in Atapuerca sollte dieser Minderwertigkeitskomplex endlich überwunden werden. Doch nun wiederum heißt es: "Spanische" Fossilien nur für spanische Forscher, was eine Art "Wissenschaftsnationalismus" darstellt.

Entscheidend ist für Hochadel die dadurch entstandene Popularisierungsindustrie, die die Forscher um das Projekt errichtet haben: Von Wanderausstellungen über dutzende populärwissenschaftliche Bücher, Dokumentationen, und einem riesigen Museum der menschlichen Evolution in Burgos sowie eine massive Welle der Unterstützung durch die spanischen Medien - die Kritik ausländischer Forscher meist ausklammern. Sie alle haben Atapuerca zum Vorzeigeprojekt schlechthin gemacht, das, quasi in seiner eigenen Blase schwebend, längst zum Synonym für den neuen Beginn der spanischen Geschichte wurde, ebenso wie die Fossilien zu Botschaftern des Landes wurden, die von Expo zu Expo reisen.

Knochen sind nicht gleich Knochen, wie Hochadel abschließend kritische Worte zur spanischen Zeitgeschichte findet. Die Gebeine der Gefallenen des Spanischen Bürgerkriegs (1936-1939) sind nicht minder umstritten, doch interessiert sich im Gegensatz zu Atapuerca von offizieller Stelle kaum jemand für sie: "Deren Überreste ermöglichen keine Unterhaltung oder leicht verdauliche Bildung", sondern sie evozierten "einzig Schmerz und Kummer für Angehörige, und bestenfalls ein wenig Erleichterung". (jam, DER STANDARD, 08.05.2013)