Wenn Albert Adrià seinen Gästen etwas Gutes tun will, dann serviert er ihnen Dosen-Sardellen. Gemeinsam mit seinem Bruder Ferran bekochte Albert bis 2011 das legendäre Restaurant El Bulli, nun betreiben die beiden unter anderem die Tapas-Bar Tickets in Barcelona. "Ich habe heute etwas Besonderes hier", raunt Albert seinen Gästen manchmal ins Ohr, "das müssen Sie probieren." Austern, Scampi, schön und gut, aber das hier – wow! Adrià schnippt mit den Fingern und lässt den Kellner einen Teller bringen, auf dem mehrere silbrige Filets in Olivenöl liegen. Was auf den ersten Blick bescheiden wirkt, ist der Beweis, wie unfassbar gut eine Sardelle sein kann: fleischig und weich, in ihrer Konsistenz näher beim Kalb als beim Fisch, dafür intensiv fischig im Geschmack.

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Foto: Stella /the food passionates /Corbis
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Kräftig, aber nie unangenehm, gerade richtig salzig – der Reichtum des Meeres in einem Bissen. Adriàs Sardellen stammen aus dem Golf von Biskaya und gelten als die besten der Welt. Sie werden vor der Küste des Baskenlandes gefangen, von Mitarbeitern der legendären Sardellenfirma Sanfilippo händisch eingesalzen und dann mit Olivenöl in Dosen gepackt. Acht Stück (Sardellen, nicht Dosen) kosten im Geschäft in Spanien um die 24 Euro, im Rest der Welt werden sie, falls überhaupt, für ein Vielfaches gehandelt.

Auch ihre weniger exklusiven Verwandten werden rund ums Mittelmeer geschätzt: Wenn etwa die Fischer von Piran im Herbst ihr traditionelles Stadtfest feiern, verteilen sie vor ihren Booten am Kai gratis Sardinen, die großen Cousinen der Sardellen, an die Besucher, nur kurz gegrillt und mit Knoblauch und Öl gewürzt. Weiter südlich, auf Sizilien, gehört die billige Pasta con le Sarde zu den Freuden des Alltags.

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Foto: Corbis
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Sardelle und Sardine könnten die perfekten Speisefische sein: Sie zu fischen ist vergleichsweise umweltschonend, weil es dabei kaum Beifang gibt und keine Schleppnetze den Boden zerstören. Ihre Bestände erholen sich schnell, weil sie sehr jung geschlechtsreif werden und sich daher schnell vermehren. Und sie sind gesünder als andere Fische, weil sie weit unten in der Nahrungskette stehen und mehr Vitamine und wertvolle Fettsäuren, aber weniger Quecksilber enthalten. Bloß gibt es mit ihnen ein paradoxes Problem: Sie werden zu viel gefangen und zu wenig gegessen.

Fischmehl für die Futterproduktion

Sardine und Sardelle (auch "Anchovies" genannt) sind Oberbegriffe für eine ganze Reihe kleiner, silbriger, sogenannter "heringsartiger" Fische. Sardellen werden etwa 15 Zentimeter, Sardinen knapp 30 Zentimeter lang. "Forage Fish", Futterfisch, nennt der englische Fischer die Gruppe und einige andere verwandte Arten. Sie sind die Basis der weltweiten Fischerei: Gemeinsam machen sie etwa ein Drittel der gefangenen Fischmenge aus. Jahrelang war etwa die peruanische Sardelle der meistgefangene Fisch der Welt – ohne aber je auf unseren Tellern zu landen. Futterfische werden meist zu Fischmehl und Fischöl verarbeitet – und dann an Schweine, Hühner, Rinder und vor allem an Zuchtfische in Aquakultur-Anlagen verfüttert.

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Überfischung: Die extreme Befischung von Sardinen, Sardellen und ihren Verwandten für die Futtermittelproduktion bedroht mittlerweile das Ökosystem der Ozeane.
Foto: Corbis

Weil weltweit der Fischbedarf steigt, die Meere aber immer leerer werden, boomt seit Jahren die Aquakultur: Keine Sparte der Lebensmittelproduktion ist in den vergangenen 40 Jahren so gewachsen. 2011 kamen bereits 60 Millionen Tonnen Fisch und Meeresfrüchte aus der Zucht, fast genauso viel, wie wild gefangen wurde. – Tendenz deutlich steigend. Gut für den Wildfisch? Nicht unbedingt.

Ein Problem von Aquakulturen ist die sogenannte Fish-in/Fish-out-Quote. Sie gibt an, wie viel Kilo Futterfisch die Züchter ihren Tieren verfüttern müssen, um wiederum ein Kilo Zuchtfisch zu "ernten". Bei Lachsen, in Europa der meistgezüchtete Fisch, liegt diese Quote zwischen 0,5 und drei – das heißt, dass bis zu drei Kilo Fisch als Mehl verfüttert werden müssen, damit ein Kilo Lachs heranwachsen kann. "Die Fixierung vieler Konsumenten auf Fische, die an der Spitze der Nahrungskette stehen, ist ein großes Problem", erklärt Gerd Kraus vom Thünen-Institut für Seefischerei in Hamburg.

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Schwarmfisch: Blaufische leben in Schwärmen. Das macht ihre Befischung vergleichsweise einfach – aber leider auch ihre Überfischung.
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"Das ist eine Frage der Essgewohnheiten. Es ist äußerst schwierig, Sardellen am Markt zu platzieren." Dabei gilt im Wasser genauso wie am Land: Je weiter unten ein Lebewesen in der Nahrungskette steht, desto weniger Ressourcen und Energie verbraucht es, um Biomasse aufzubauen.

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Mega-Omega-3: Sardinen enthalten besonders viele dieser essenziellen Fettsäuren – nicht weniger als 1.579 Milligramm pro 100 Gramm.
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Ein Kilo Sardinen hat eine unverhältnismäßig bessere Ökobilanz als ein Kilo Kabeljau. Es wäre daher besser, wenn Menschen den Futterfisch direkt verspeisen, als ihn an Zuchttiere zu verfüttern. So haben mexikanische Forscher ausgerechnet, dass die Sardinen, die in den vergangenen 20 Jahren im Golf von Mexiko gefangen wurden, den Jahreskonsum an tierischem Eiweiß aller Mexikaner, mehr als 110 Millionen Menschen, gedeckt hätten. (Tobias Müller, Feinkost, DER STANDARD, 23.05.2013)