Frank Hebben: "Das Lied der Grammophonbäume" und Frank Hebben & André Skora (Hrsg.): "Fieberglasträume: Kybernetische Kurzgeschichten"
Gebundene Ausgabe, 122 Seiten, € 12,30, bzw. broschiert, 336 Seiten, € 15,40, Begedia 2013
Nach fünf Jahren Rundschau bin ich nicht mehr so leicht zu beeindrucken wie anfangs, aber manche Dinge halten. Dazu gehört auch das Schaffen des deutschen Autors Frank Hebben, der in seiner 2008 erschienenen Storysammlung "Prothesengötter" die biomechanische Verschmelzung von Mensch und Maschine in schaurige Höhen getrieben hatte. Daran knüpft er in der von ihm mitherausgegebenen Anthologie "Fieberglasträume" sowie in der heuer bei Shayol erschienenen neuen Sammlung "Maschinenkinder" an. Dazwischen aber überraschte Hebben mit etwas ganz Anderem, das zunächst nur als E-Book erschien und nun im Begedia-Verlag auch gedruckt veröffentlicht wurde.
Zurück in die Vergangenheit
"Das Lied der Grammophonbäume", gebunden im schnuckligen Postkartenformat von 17,5 x 12 Zentimetern, ist eine Sammlung von neun Kurzgeschichten, die insgesamt Novellenlänge erreichen. Das Generalthema lautet Erinnerungen, und so weisen die Erzählungen auch von ihrem Setting her eher in die Vergangenheit als in die Zukunft. Die Poe-artige Schauergeschichte "Das Uhrwerk" etwa und das ähnlich konstruierte "Das schweigende Haus" sind beide im 19. Jahrhundert angesiedelt. Selbst "Imperium Germanicum", das bereits in "Prothesengötter" enthalten war und deutliche SF-Züge trägt, gehört eigentlich in die Vergangenheit - wenn auch eine, die so nie stattgefunden hat. Es ist die albtraumhafte Vision eines nie zu Ende gegangenen Ersten Weltkriegs: Der Tod ist Maschinist, die Pest ist Chemiker geworden, und wir Soldaten sind die Ratten, graben Schützengräben quer durchs verstrahlte Vaterland ...
"Imperium Germanicum" bildet den krassestmöglichen Kontrast zu "Das Wunder von Flandern", einem Moment der Hoffnung, als 1914 an der Westfront für kurze Zeit der Weihnachtsfriede einkehrte. Beruhend auf einer wahren Begebenheit, so unglaublich sie auch anmutet. Das "Wunder" ist eines von mehreren Stücken Flash Fiction bzw. "Kürzestgeschichten" in der Sammlung: Wenige Seiten umfassende Momentaufnahmen, in denen wir kurz in das Denken des jeweiligen Erzählers switchen. Etwa eines vom Krieg in Mitleidenschaft gezogenen Hauses oder eines alten Mannes, der sich an sein wechselvolles Leben erinnert. (Letzteres - "Der Seeraum" - spiegelt sich dann noch einmal in der längeren Titelgeschichte wider.) Diese Momentaufnahmen sind mal poetisch, mal so grausam und hoffnungslos, wie man es aus Hebbens Zukunftsgeschichten kennt.
Dazu kommen dann noch das erstmals in dieser Sammlung veröffentlichte "Das Brandmal", in dem sich allerhand Fantasy-Volk in einer dreckigen Cyberpunk-Handlung herumtreibt, und "Stormrider", in dem der Tod höchstselbst ein Motel in der Wüste besucht. Insgesamt ist "Das Lied der Grammophonbäume" also eher der Fantasy respektive ihren Geschwistern Horror und Slipstream zugeneigt als der Science Fiction. Das hätte man nach "Prothesengötter" nicht unbedingt erwartet, den Lesegenuss schmälert es aber keineswegs.
Kybernetische Kurzgeschichten
Die zeitgleich herausgegebene Anthologie "Fieberglasträume" trägt den Titelzusatz "Kybernetische Kurzgeschichten". Insofern ist es nicht ganz selbstverständlich, wenn im Vorwort dazu das Hohelied auf den Cyberpunk gesungen wird - Hebben zeigte ja, dass sich das Wechselspiel von Mensch und Maschine in noch ganz anderen und viel ausgefalleneren Formen weiterdenken lässt. Und tatsächlich sind unter den 15 hier versammelten Geschichten diejenigen, die auf klassischen Cyberpunk setzen, auch die am wenigsten interessanten, weil sie dem mittlerweile über 30 Jahre alten Genre nichts Neues hinzufügen.
Gut die Hälfte der Autoren - viele davon aus der Rollenspieler-Community kommend - setzen auf die klassischen Topoi: Fehlender sozialer Zusammenhalt, eine Wirtschaft, die endgültig nicht mehr von organisiertem Verbrechen zu unterscheiden ist, ProtagonistInnen vom unteren Rand der Gesellschaft, die für Datenklau-Missionen angeheuert werden, Computertechnologie mit Körperschnittstellen und dazu jede Menge Gewalt, Drogen und ungesundes Essen. Am besten wird diese Formel von Peer Bieber in "Die drei Tage des Hiob" umgesetzt, weil hier die Entmenschlichung bis zur Total-Eskalation getrieben wird (dagegen nehmen sich die Kampfszenen anderer Autoren wie harmlose Geplänkel aus). Nicht von ungefähr wird in dieser Geschichte aber auch das Ende der bisherigen Welt eingeläutet - und damit auch das des altbekannten Cyberpunk-Settings, in dem sich allzuviele der übrigen Beiträge gemütlich eingerichtet haben.
Die Highlights
Vollkommen anders gestrickt ist beispielsweise "Der Sturz" von Michael K. Iwoleit. Vor dem Hintergrund eines Anschlags und einer folgenschweren diplomatischen Mission versucht sich hier der orientierungslose Erzähler in seinem Avatar zurechtzufinden. Allerdings handelt es sich in diesem Fall um eine KI, die ihren neuen Körper durch das Reallife zu steuern versucht - eine reizvolle Umkehrung. (Und wird der Mann jemals einen Schluss schreiben, bei dem's einen nicht schaudert?)
Herrlich bösartig ist die Biopunk-Geschichte "Demeters Garten" von Thorsten Küper: Ein Häuflein skrupelloser WissenschafterInnen eines Umbrella-artigen Gentechnik-Unternehmens wurde offenbar von der Regierung in einem unterirdischen Laborkomplex einbetoniert. Die an Uwe Post erinnernde Erzählung ist in den Rahmen einer Teambesprechung eingebettet, und die Komik des Ganzen liegt gerade darin, dass die ProtagonistInnen eine Art von Routine aufrechtzuerhalten versuchen, während rings um sie längst der selbstverschuldete Wahnsinn tobt. Einen Twist gibt es noch obendrauf.
Positives und Negatives
Generell gilt für diese Sammlung: Die besseren Geschichten kommen von den bekannteren Namen. Allerdings gibt es - zumindest für mich - auch Neuentdeckungen. Allen voran Sven Klöpping: In "Kabelgott" lässt er seinen Protagonisten hemmungslos in die Weiten des Cyberspace eintauchen. Er ist gekommen, um zu konsumieren, und wird am Ende konsumiert. Und Niklas Peinecke ist mir bislang mit ein paar Kurzgeschichten mit originellen Ideen aufgefallen, die exakt für die Länge der jeweiligen Erzählung ausreichten. In "Animatoo" erweckt Peinecke erstmals den Eindruck, dass er etwas zurückhält. Die Geschichte um einen Handlungsreisenden bzw. Vollstrecker in Sachen Technologie-Patente deutet einen größeren Weltentwurf an, der jederzeit zu einem Roman ausgebaut werden könnte.
Die Quote an wirklich guten Geschichten ist in "Fieberglasträume" nicht geringer als in der durchschnittlichen SF-Anthologie. Das Bild wird nur leider ein wenig dadurch verzerrt, dass es bei einer ganzen Reihe Autoren sprachlich holpert. Typische Fehler sind das Einbauen beschreibender Elemente - etwa zum Aussehen einer Figur - zur Unzeit, z.B. mitten in einer Action-Sequenz, was das Tempo rausnimmt; oder Sätze, in die so viele Gedankengänge hineingepackt wurden, dass sie die Richtung verlieren; Wörter, die nicht zum - gewollt dreckigen - Ton der Erzählung passen; und das Bemühen um allzu originelle Formulierungen, die dann krampfhaft wirken.
Ein strengeres Lektorat könnte da einiges noch rausbügeln. Und bei der Gelegenheit auch Beistrichsetzung und Rechtschreibung etwas auf Vordermann bringen - nur den Wischmob würde ich lassen, das hat was.
Einmal mehr: Hebben
Höhepunkt der Anthologie sind zwei miteinander verbundene Geschichten von Mitherausgeber Frank Hebben selbst ("Zeit der Asche #Rheingold") und "Rost"-Autor Christian Günther ("Zeit der Asche #Hanse"). Ohne Vorwarnung oder Gnade werfen uns die beiden in eine entsetzliche Zukunft nach dem großen Zusammenbruch. In einer Welt aus Asche, Gift, allesinfizierenden Mikromaschinen und mutierter Natur existieren die letzten Überlebenden nur noch in abgeschotteten Kolonien, angeführt von nietzscheanischen Übermenschen. Bis zwei davon der Ruf ereilt, sich auf eine letzte Wanderung zu begeben.
Hebben schildert in expressionistischer Weise, wie sich die biomechanische Königin einer unterirdischen Kolonie mit ihrem ganzen Volk auf den Weg macht. Günther lässt - mit nicht ganz ebenbürtiger Sprachgewalt, aber immer noch beeindruckend - die Flotte der Hanse folgen. Das Ausmaß von Grauen und Faszination, das diese Erzählungen ausüben, ist in seiner Bildhaftigkeit enorm - ich könnte mir das gut als Graphic Novel von Caza oder Philippe Druillet vorstellen. Großes Kino!